Ingolstadt
Die Stunde der Pazifisten

Die Friedensbewegung bot zum Anti-Kriegstag einen offensiven Referenten auf

02.09.2014 | Stand 02.12.2020, 22:17 Uhr

Angriffsfreudig: Der Friedensforscher Peter Strutinsky (rechts) neben Roland Keller, dem Moderator des Anti-Kriegstags. - Foto: Silvester

Ingolstadt (DK) Am 1. September 1939 überfiel die Wehrmacht Polen, der Zweite Weltkrieg begann. Der Gedenktag 75 Jahre später war von den vielen aktuellen Kriegen geprägt. Auch die Ingolstädter Friedensbewegung setzte sich in St. Johannes schonungslos mit dem Reizthema Krieg auseinander.

In diesem Haus ist jeder willkommen, der über Gott und die Welt etwas zu sagen hat, auch wenn die Ansichten nicht allen gefallen – dies schickte Christoph Drescher, der Pfarrer von St. Johannes, voraus, bevor die Gäste von der Friedensbewegung im Saal der evangelischen Gemeinde das Wort ergriffen. Nichtkirchliche Organisationen, „die hier einen Raum erbitten, bedürfen der Genehmigung des Kirchenvorstands“, und der habe einmütig zugestimmt. „Das ist nicht so selbstverständlich“, sagte Drescher. Vor einem Jahr habe es in einem ähnlichen Fall „großen Knatsch gegeben“, ein Mitglied habe den Kirchenvorstand deshalb verlassen. „Aber es ist eine Aufgabe, auch für andere Meinungen offen zu sein.“

Das Bekenntnis des Pfarrers traf die Grundstimmung des Anti-Kriegstags: Unter dem Eindruck zehntausender Toter an immer mehr Fronten (Irak, Syrien, Libyen, Ost-Ukraine, Gaza-Streifen und weitere) treten gegensätzliche Ansichten um so greller hervor. Krisengeplagte Zeiten. Am Nachmittag des geschichtsmächtigen Gedenktags hatte der Deutsche Bundestag Waffenlieferungen an kurdische Kämpfer zugestimmt, damit sie im Irak die Milizen des Islamischen Staats (IS) zurückdrängen. „Eine Farce!“, klagte Roland Keller, der Moderator des Anti-Kriegstags. Eva Bulling-Schröter, Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, hatte die Sondersitzung in Berlin gern geschwänzt, wie sie bekannte, weil sie den Tag lieber bei der Friedensbewegung verbringen wollte. Auch der Gastreferent Peter Strutinsky, Friedensaktivist und pensionierter Politikwissenschaftler an der Uni Kassel, vermittelte einen Eindruck davon, wie stark die Fülle von Kriegen viele Betrachter aufwühlt. Heute, versicherte Strutinsky seinen gut 50 Zuhörern, sei die Friedensbewegung notwendiger denn je.

Nach dem Kalten Krieg „hätte man sich eine bessere Welt gewünscht“, sagt Strutinsky. Die Grundlagen seien da gewesen. Aber daraus wurde nichts. Der Strategiewechsel der Nato habe dabei eine verhängnisvolle Rolle gespielt. „Sie hat sich neu erfunden.“ Das Ziel: „Eine neue Weltordnung.“ Was er darunter versteht, erklärte Strutinsky mit „Trends der Militarisierung“, die er in den Nato-Staaten erkennt. Erstens: „Die Durchsetzung des Neoliberalismus mit allen negativen Erscheinungen.“ Zweitens: Der Drang der EU und der Nato nach Osten „zur systematischen Einkreisung Russlands und Chinas“. Ein Teil dieser Strategie: „Die Umwandlung der Bundeswehr in eine Invasionstruppe für die selektive Kriegsführung in aller Welt.“ Aber warum dieses Machtstreben? Strutinsky: „Es geht um Ressourcen. Um Handelswege. Um Energie. Dieser Kampf hat längst begonnen!“

Drei Kräfte heizen ihm zufolge den Expansionsdrang des Westens an: „Die verheerende, militärisch aufgeladene Politik der Bundesregierung, die verhängnisvolle Rolle der Medien und der Zeitgeist.“ Konkret: „Die Herrschenden sind mächtig dabei, in der Öffentlichkeit zu begründen, warum Deutschland wieder mehr militärische Verantwortung übernehmen muss. Die Regierung bearbeitet die Bevölkerung ideologisch, dafür spannt sie sogar den Bundespräsidenten ein.“ Die Medien „sind zum Sprachrohr und Verstärker dieser Regierungspolitik im ganz schlechten Sinne geworden“. Die meisten seien nicht mehr kritisch, manche gar „kriegshetzerisch“. Schließlich der Zeitgeist: „Er träufelt wie ein Gift in unsere Gehirne, dass der Krieg ein selbstverständliches Mittel der Politik sein soll.“

Der Friedensforscher kritisierte Wladimir Putin, der den Kampf der ukrainischen Armee mit Hitlers Taktik im Zweiten Weltkrieg verglichen hat („Das verbietet sich!“), nahm den russischen Präsidenten dann aber gleich in Schutz: „Denn die ukrainische Übergangsregierung schafft immer wieder Anlässe, die zu solchen Vergleichen provozieren. Das hängt damit zusammen, dass sie stark von faschistischen Kräften durchsetzt ist.“ Strutinsky bezeichnete die Unabhängigkeitserklärung der Krim als verfassungswidrig, relativierte das aber mit dem Hinweis auf den Kosovo: Dessen fragwürdige Souveränität habe der Westen sehr begrüßt.

Dann der Terror der IS-Miliz im Irak. „Furchtbar!“ Die Bundesrepublik sei jedoch mitverantwortlich, weil sie die Waffen exportiere, die den Islamisten auf Umwegen in die Hände fielen. Strutinskys Lösung: „Diese Kanäle muss man verstopfen!“

Der Referent schloss mit dem Appell: „Geht auf die Straße und demonstriert!“ Nach einem gemeinsam intonierten „Schalom Chaverim“ zogen die Teilnehmer friedlich hinaus.