Paris
"Die standen mit 20 Mann hinten"

Özil hadert nach 0:0 der DFB-Elf mit defensiver Ausrichtung der Polen Boateng rügt Mitspieler

17.06.2016 | Stand 02.12.2020, 19:39 Uhr

Paris (DK) Der Fußball-Weltmeister ist auf seiner Tour de France, die am 10. Juli in Paris mit dem vierten EM-Titel gekrönt werden soll, ein Stück weit aus dem Gleichgewicht geraten. Hauptdarsteller wie Jérôme Boateng wählten nach dem torlosen Remis gegen Polen deutliche Worte.

Wenn es nach Mesut Özil gegangen wäre, hätte Deutschland das Spiel am grünen Tisch gewonnen. "Die standen ja mit 20 Mann hinten, da ist es doch normal, dass du da Schwierigkeiten hast." 20 Mann? Özil irrt, es waren nur elf polnische Spieler, die ihm und seinen Spielkameraden das Fußball-Leben an diesem Abend in Paris so schwer gemacht hatten. Das 0:0 liefert viel Stoff in jedweder Richtung.

"Die Enttäuschung ist relativ groß", meinte Mesut Özil am Ende eines Abends, der aber aus deutscher Sicht nur als befriedigend zu bewerten ist. Das Positive: Die deutsche Abwehr war top. Aber: Was sich bereits gegen die Ukraine in Ansätzen gezeigt hatte, wurde im zweiten Spiel deutlich: Es fehlt an Ideen und Durchschlagskraft im deutschen Offensivspiel. Mesut Özil, Mario Götze, Julian Draxler und auch Thomas Müller kombinierten bis an den Strafraum gut, doch gegen die gute Abwehr der Polen gab es kein Durchkommen, was auch daran lag, dass die Deutschen vorwiegend in der Mitte die Lücke suchten. Thomas Müller fehlte auf der rechten Außenbahn der spielstarke Partner, was in der Person von Benedikt Höwedes keine Überraschung ist. Der Schalker steht defensiv gut, bringt aber offensiv nichts. Auf der Gegenseite war Jonas Hector vor allem in der ersten Hälfte der Aktivposten, doch das Zusammenspiel mit Julian Draxler blieb uneffektiv.

Echte herausgespielte Torchancen gab es für die Löw-Kicker nicht, die hatten dagegen die Polen, die Arkadiusz Milik (46. und 70. Minute) aber nicht nutzen konnte. Stürmer-Star Robert Lewandowski: "In der ersten Halbzeit hatten wir viel Respekt, aber in der zweiten Halbzeit hatten wir auch unsere Möglichkeiten."

"Wir hatten die Kontrolle über das, was auf dem Feld geschah", meinte Polen-Trainer Adam Nawalka. Sein Team war der erwartet schwere Gegner, was alle deutschen Akteure so sahen. "Insgesamt ist das Unentschieden vollkommen gerecht", analysierte Bundestrainer Jogi Löw, der die Erkenntnisse des Spiels auf diese Kurzformel brachte: "In der Defensive haben wir gut gespielt, kaum Chancen zugelassen. Im Spiel nach vorn haben wir nur wenige Lösungen gefunden." Die Einstellung, so Löw, habe gestimmt. Er ist sich sicher, dass sich Deutschland für das Achtelfinale qualifizieren werde. Löw: "In der Gruppenphase ist es ein Abnutzungskampf, in der K.-o.-Phase wird es wahrscheinlich auch ein bisschen offener."

Deutlicher als Löw wurde Jérôme Boateng, der von der Uefa als "Man of the Match" gewählt wurde: "Wir müssen auch mal aufs Tor schießen, wir spielen bis ins letzte Drittel gut, dann kommen wir nicht am Gegner vorbei und sind nicht gefährlich." Das müsse das Team verbessern, "sonst kommen wir nicht weit". Im gestrigen Mannschaftstraining fehlte Boateng, er regenerierte im Hotel. Der angeschlagene Sami Khedira (Tritt auf den Knöchel) war hingegen dabei.

Toni Kroos, der nicht ganz an seine überragende Leistung aus dem Ukraine-Spiel anknüpfen konnte, mochte Boatengs Kritik nicht widersprechen: "Es hat einfach ein bisschen was gefehlt, die Bälle waren zu einfach weg."

Ungewohnt scharfe Töne kamen gestern vom ehemaligen Kapitän Michael Ballack. Der 39-Jährige sagte im US-TV-Sender ESPN: "Dieser Mannschaft fehlt ein bisschen Persönlichkeit und Charakter." Das Team wolle "alles schön machen und den Ball ins Tor tragen." Geerdeter klang das bei Thomas Müller so: "Es hat heute einfach gegen gut verteidigende Polen der letzte Esprit gefehlt, der letzte zündende Gedanke. Dementsprechend sind wir nicht 100-prozentig zufrieden und auf der Suche nach den Lösungen."

Als Gewinner des Spiels konnte sich Mats Hummels betrachten, der für Shkodran Mustafi ins Team gerückt war und nach langer Verletzungspause ein starkes Spiel neben Boateng in der Innenverteidigung ablieferte. Polens Robert Lewandowski hatten beide nahezu im Griff. "Ich bin sehr froh, dass ich spielen durfte", sagte der zu den Bayern wechselnde Dortmunder. "Wenn es ein Risiko bei mir gegeben hätte, dann hätte ich nicht gespielt."

Am kommenden Dienstag geht es für das deutsche Team erneut nach Paris: Für das Achtelfinale muss mindestens ein Punkt gegen Nordirland erspielt oder erkämpft werden. Toni Kroos: "Wir müssen jetzt das letzte Gruppenspiel gewinnen und als Erster durchkommen, dann sehen wir weiter."