München
"Die Spitze der Hochwasserwelle abschneiden"

Der Wasserbau-Experte Peter Rutschmann zur Bedeutung der geplanten Flutpolder für den Schutz vor Überschwemmungen

27.11.2018 | Stand 02.12.2020, 15:09 Uhr
Das überflutete Autobahnkreuz Deggendorf im Juni 2013. Einer Computersimulation zufolge wären die Überschwemmungen vielleicht zu verhindern gewesen, wenn es die geplanten Flutpolder an der Donau gegeben hätte. −Foto: Binder/Heddergott

München (DK) Kurz nach der Flutkatastrophe von 2013 hatte die Staatsregierung beschlossen, dass entlang der Donau zwölf Flutpolder als "Festung" gegen künftige extreme Hochwasser gebaut werden.

Mit dem Koalitionsvertrag von CSU und Freien Wählern steht dieser in den betroffenen Regionen heftig umstrittene Hochwasserschutz nun wieder in Frage: Drei Flutpolder sollen aus dem Konzept gestrichen werden. Und zwar ausgerechnet die drei größten bei Bertoldsheim (Landkreis Neuburg-Schrobenhausen), Eltheim und Wörthof (beide im Landkreis Regensburg). Zwischen Regensburg und Straubing würden damit drei Viertel der möglichen Kapazität wegfallen, wogegen sich entlang der Donau von Straubing bis Passau massiver Widerstand regt. Die zwölf Flutpolder-Standorte sind das Ergebnis einer Studie, die von 2009 bis 2012 am Lehrstuhl für Wasserbau und Wasserwirtschaft der Technischen Universität München erstellt wurde. Lehrstuhlinhaber Peter Rutschmann erläutert im Interview, in welchen Situationen die Flutpolder von Nutzen wären.

Herr Rutschmann, welche Funktion hat ein Flutpolder im Hochwasserschutzsystem?

Peter Rutschmann: Im Prinzip sollten die Gewässer erster und zweiter Ordnung auf einen hundertjährlichen Hochwasserschutz ausgelegt sein. Das heißt, ein Hochwasser, wie es einmal in hundert Jahren wahrscheinlich ist, sollte im Prinzip normal abgeführt werden. Ein Flutpolder würde erst bei einem noch extremeren Hochwasser greifen, er würde also etwa alle 100 Jahre einmal in Betrieb kommen. Allerdings muss man sagen: Die Statistiken zu den Häufigkeiten sind relativ unsicher und wir wissen nicht genau, was der Klimawandel bringen wird. Man hat bereits beobachtet, dass sich die Niederschläge saisonal verschieben. Es kommt zu Effekten wie Starkregen, die es so früher nicht gab. Die Flutpolder sind ein zusätzliches Sicherungssystem, um mit Hochwässern umzugehen, die über einem hundertjährlichen liegen.

Dafür ist entscheidend, dass man genau an der Spitze der Hochwasserwelle ansetzt?

Rutschmann: Richtig. Die Flutpolder sind Räume links und rechts vom Fluss, die früher bei einem Hochwasser überflutet waren und nun durch die Deiche trocken gehalten werden. Diese Überflutungsräume könnte man ganz gezielt wieder aktivieren - und zwar so, dass man genau die Spitze der Hochwasserwelle abschneidet. Wenn ich einen Flutpolder beispielsweise mit 10 Millionen Kubikmeter Volumen habe, dann nehme ich die 10 Millionen Kubikmeter in der Spitze des Hochwasserereignisses heraus und parke sie quasi neben dem Gewässer. Es gibt mehrere Untersuchungen, die alle zeigen, dass Überflutungsflächen nur eine Wirkung auf den Wasserhöchststand haben, wenn sie gezielt in der Spitze der Hochwasserwelle aktiviert werden.

Welche Probleme könnten bei der Flutung der Polder auftreten? Sind die Bedenken wegen Überflutungen durch ansteigendes Grundwasser berechtigt?

Rutschmann: Aus meiner Sicht würde ich sagen: Da wird sehr viel mit Angst gearbeitet. Was man sicher sagen kann: Der Donau-Pegel hat einen Einfluss auf den Grundwasserspiegel und der Polder wird ja frei durchflossen. Also zumindest in der Anfangsphase ist der Grundwasserspiegel vom Donau-Pegel beeinflusst und nicht vom Polder. In einer späteren Phase, wenn der Wasserstand in der Donau zurückgeht und noch Wasser im Polder ist, kann das Einfluss auf den Grundwasserspiegel haben. Dabei muss immer die lokale Situation berücksichtigt werden. Man muss natürlich vor der Verwirklichung eines Polders untersuchen, ob ein Grundwasseranstieg stattfinden kann, in welchem Umfang, und wer davon betroffen wäre. Eigentlich kann jeder Polder so abgedichtet werden, dass kein Einfluss auf Gebäude entsteht - das ist eine Frage der Kosten. Wobei auch klar ist: Wenn die Kosten hoch sind, dann würde man einen solchen Standort nicht nehmen.

Wie weit reicht die Wirksamkeit eines Polders? Fünf Kilometer, 50 oder auch mehrere Hundert?

Rutschmann: Theoretisch mehrere Hundert Kilometer, aber die Wirkung nimmt immer mehr ab. Wenn Sie das gerade für Passau anschauen, dann ist theoretisch die Wirkung eines jeden Flutpolders vorhanden, aber tatsächlich in Passau kaum mehr messbar. Sie haben die höchste Wirkung gleich unterhalb des Polders. Das kann im Fall eines großen Polders wie Bertoldsheim durchaus zehn Prozent Abfluss-Minderung sein. Weiter stromab flacht sich das aus. Bertoldsheim hat beispielsweise eine Wirkung, die über 100 Kilometer hinausgeht, wobei man dann nicht mehr bei zehn Prozent ist, sondern im Bereich ein oder zwei Prozent Dämpfung des Spitzenabflusses.

Minister Aiwanger hat gesagt, das "Rutschmann-Gutachten" habe gezeigt, dass die Flutpolder stromab keine Auswirkungen hätten. Gerade haben Sie etwas anderes erläutert.

Rutschmann: Zunächst: Es gibt kein "Gutachten Rutschmann", sondern nur das Gutachten der TU München, für welches ich verantwortlich zeichne. Zweitens: Ich habe nirgendwo geschrieben oder gesagt, dass Flutpolder stromab keine Wirkung hätten. Herr Aiwanger muss falsch informiert worden sein, oder es liegt ein Missverständnis seinerseits vor.

Kann eine "dezentrale Regenrückhaltung" die Funktion von Flutpoldern ersetzen?

Rutschmann: Meines Erachtens können Flutpolder nicht durch dezentrale Maßnahmen ersetzt werden. Die Strategie von Bayern ist ja: das eine tun und das andere nicht lassen. Eine dezentrale Strategie macht Sinn in einem lokalen Kontext, in einem Umkreis von vielleicht zehn Kilometer. Sie hat aber einen geringen Einfluss auf das, was großmaßstäblich passiert. Dabei geht es ja auch um ganz unterschiedliche Hochwassersituationen.

Welche Rolle könnten die Staustufen spielen?

Rutschmann: Theoretisch steht tatsächlich ein enormes Volumen zur Verfügung, wenn man das Wehr einer Staustufe öffnen würde, bevor das Hochwasser kommt. Aber auch hier gilt: Dieser theoretische Raum würde sich schon beim Anlaufen der Hochwasserwelle wieder füllen und könnte nicht zur Dämpfung der Spitze genutzt werden. Wenn man die Staustufen clever steuert, könnte man vielleicht etwas Stauraum für die Spitze bewahren, aber entscheidend weniger als in einem Flutpolder. Wenn man das machen möchte, würde man aber die möglichen Gefahren massiv erhöhen. Beispielsweise müsste man sehr darauf achten, dass man nicht durch das Öffnen der Wehre eine Hochwasserwelle erzeugt, die sich stromab mit einer anderen überlagert. Dass also beispielsweise das Leeren der Staustufen an der Donau nicht das Inn-Hochwasser in Passau verstärkt. Das ist nur ein Aspekt von vielen. Wenn in der ganzen Operation ein Fehler passiert, wird es extrem gefährlich. Man kann es versuchen, wenn es im Einzelfall die letzte Möglichkeit ist, aus meiner Sicht sollte man aber eine gezielte Steuerung der Staustufen nicht zum Teil einer Hochwasserstrategie machen. Da ist der Nutzen zu gering und die Gefahr zu groß. Weltweit sind die meisten Dammbrüche durch Fehloperationen von Wehren ausgelöst worden. Das waren oft andere Situationen als an der Donau, aber es zeigt, wie problematisch solche Wehroperationen sind.

Das Interview führte Stefan Gabriel.