Nürnberg
"Die Hygiene nicht über alles stellen"

Der Nürnberger Chefarzt für Geriatrie, Markus Gosch, zieht Lehren aus der Pandemie für die Versorgung von demenzerkrankten Menschen

11.11.2020 | Stand 02.12.2020, 10:10 Uhr |
Markus Gosch ist Chefarzt für Geriatrie. − Foto: Klinikum Nürnberg

Nürnberg - In den ersten Monaten der Corona-Pandemie waren Altenheime sozial abgeriegelt.

Für demente Senioren bedeutete das meist: keine Besuche, keine Spaziergänge, mehr Stress. Jetzt befasst sich ein Fachtag mit den Folgen. Über diese sprach der Chefarzt für Geriatrie am Klinikum Nürnberg, Markus Gosch, mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Herr Professor Gosch, wie wirkt sich eine Quarantäne auf einen demenzerkrankten Menschen aus?

Markus Gosch: Soziale Isolation ist ein großes Problem insbesondere dann, wenn noch enge Beziehungen zur Familie bestehen. Bei Demenzkranken gibt es Stadien, in denen die Patienten nur auf die Familie fokussiert sind, weil es die letzten Vertrauenspersonen sind, die sie noch erkennen. Natürlich gibt es noch fortgeschrittenere Stadien der Demenz, wo das nicht so der entscheidende Punkt ist. Aber generell ist es schon so, dass eine Quarantäne-Situation für Patienten und ihre Angehörigen eine besondere Herausforderung darstellt.

Was haben die Fachleute speziell für Demenzerkrankungen in der Corona-Pandemie gelernt?

Gosch: Wir waren überrascht, dass aus den Pflegeheimen Berichte kommen, dass es manchen dementen Bewohnern sogar bessergeht, wenn sie weniger Angehörigenbesuche bekommen. Alle haben wir damit gerechnet, dass das zu einer Krisensituation führen würde. Es gibt den Demenzerkrankten, der sich freut, wenn die Tochter kommt, weil es noch die letzte Person ist, die er erkennt und mit der er noch reden kann. Aber bei einem fortgeschrittenen Stadium der Demenzerkrankung kann es schon sein, dass ihn der Besuch stresst, weil er nicht weiß: Was will jetzt die Person von mir? Ich kenne sie nicht, warum kommt sie zu mir?

Wir haben außerdem erlebt, dass viele Angehörige mit den Demenzkranken zu Hause komplett überfordert sind. Wenn die nicht rausgehen und ihren Tagesablauf strukturieren können, ist wirklich Feuer auf dem Dach. Diesen Menschen muss man Kontaktmöglichkeiten geben, damit der Betreuende nicht 24 Stunden mit dem Demenzkranken in der Wohnung eingesperrt ist.

Welche Folgen hatten die Schließungen der Heime für Besucher in den ersten Corona-Monaten für Angehörige und Kranke?

Gosch: Konkret haben wir keine medizinischen Fakten, anhand derer wir sagen könnten, dass beispielsweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Schlaganfälle anstiegen. Wir mussten allerdings feststellen, dass viele Patienten auch zu spät ins Krankenhaus kamen und notwendige und sinnvolle Arztkontakte auch aus Angst vor Corona vermieden wurden. Wir wissen aber, dass Aktivierung und Mobilisierung wichtige Faktoren sind. Wenn Patienten nicht mobilisiert werden, verschlechtert sich ihr Allgemeinzustand rapide. Die Personalsituation in den Heimen ist angespannt, man hat dort nicht die Möglichkeit, mit einem Bewohner spazieren zu gehen.

Ist in Corona-Zeiten also für manche Demenzkranke ein ausbleibender Besuch gesundheitsgefährdender als das Virus?

Gosch: Wenn wir die Hygiene über alles stellen, erklären wir die Bewohner in Seniorenheimen zu Dauerpatienten wie im Krankenhaus. Man muss auch ein menschenwürdiges Leben ermöglichen und bei der Hygiene Abstriche machen. Andererseits ist uns klar, dass wir die Bewohner schützen müssen.

Man hätte das in diesem Sommer thematisieren sollen, denn das Wegsperren im ersten Lockdown ist sicher nicht der Wunsch der Bewohner und ihrer Familien. Wir erleben jetzt sogar, dass manche ihren Vater oder die Mutter nicht in einem Pflegeheim unterbringen, weil sie Angst haben, dass sie sie nicht mehr besuchen können. Man muss ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Dazu zählen auch Besuche.

. . . und Berührungen und Umarmungen?

Gosch: Angehörige müssen überlegen, wie sie sich verhalten, wenn sie ihre Mutter oder ihren Großvater besuchen. Wie hoch ist das Risiko, dass ich die Krankheit mitbringen kann? Wenn ich extrem vorsichtig bin, immer Maske trage, Sozialkontake eingestellt habe und mich vollkommen gesund fühle, dann ist vielleicht auch eine Umarmung möglich. Umgekehrt: Wenn ich viel mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs war und viele Kontakte im Beruf habe, dann werde ich beim Besuch auch die Maske auflassen. Da stößt man bei den Älteren auf viel Verständnis.

Also ist es für die Menschen in den Heimen nicht mehr befremdlich, wenn das Gegenüber die Maske im Gesicht hat?

Gosch: Auch bei Patienten mit Demenzerkrankungen haben wir in der Klinik nicht das Gefühl, dass sie nicht zu erreichen sind oder häufiger verwirrt sind, weil wir alle Masken tragen.

Beim Fachtag soll es auch darum gehen, was die Fachleute bisher aus dem Lockdown gelernt haben. Was haben sie gelernt?

Gosch: Man muss differenzieren, was man aus dem Lockdown gelernt hat und was aus der Gesamtsituation. Der Lockdown war eine Notwehrreaktion, weil wir ja keine Ahnung vom Infektionsrisiko, Krankheitsverlauf und Mortalitätsrisiko hatten. Jetzt wissen wir mehr über Übertragungswege, wissen, wie wir uns schützen können. Eine Coronavirus-Infektion ist für einen alten Menschen kein Todesurteil. Derzeit geht man davon aus, dass von den mit Corona infizierten Über-80-Jährigen etwa zehn Prozent an der Infektion auch versterben. Ein Lockdown in dieser Härte sollte nicht wieder kommen. In der jetzigen Situation wäre das Abriegeln von Heimen nicht gerechtfertigt, Besuchsverbote, Ausgangssperren für die Bewohner sind sicher zu viel. Und wir haben gelernt, dass wir als Gesellschaft viel zu wenig auf die Situation vorbereitet waren. Die Pandemie ist eine neue und enorme Herausforderung für unsere Gesellschaft. Wenn wir die gemeinsame Verantwortung in den Vordergrund stellen, können wir auch als Gemeinschaft reifen.

epd

Interview: Jutta Olschewski

Artikel kommentieren