München
Die Hybris der Herrschenden

Sulayman Al Bassams Historienstück "Ur" im Münchner Marstalltheater

30.09.2018 | Stand 02.12.2020, 15:34 Uhr
"Ur" handelt von Formen des kulturellen Gedächtnisses und seiner ideologischen Aneignungen. Szene mit Lara Ailo (Nin-Gal), Tim Werths (Elam/Andrae) und Dalia Naous (Diyala). −Foto: Dashuber

München (DK) In arroganter Kolonialherrenmanier, gespickt mit antisemitischen Tiraden, brüstet sich Friedrich Delitzsch, der Vorsitzende der Deutschen Orient-Gesellschaft unter dem Protektorat von Kaiser Wilhelm II.

, dass die deutsche Kultur und Identität ihren Ursprung in Mesopotamien habe. Eine ebenso beflissene wie intrigante Archäologenclique hat deshalb nicht nur die Aufgabe, sondern die Pflicht, das Land zwischen Euphrat und Tigris als deutschen Kolonialbesitz zu beanspruchen, um damit den Wurzeln des Ariertums in der untergegangenen Stadt Ur zu suchen.

Dieser nationalistisch-chauvinistischen Eingangsszene setzt der 1972 in Kuwait geborene Autor Sulayman Al Bassam in seinem Theaterstück "Ur" die Ursachen des Untergangs dieses ehemaligen Herrschaftszentrums im Zweistromland vor rund 4000 Jahren entgegen. Eine Stadt mit fremdenfreundlicher und weltoffener Gesinnung sei Ur in der Überlieferung des "Gilgamesch"-Epos aus der 2. Hälfte des 2. Jahrtausends vor Christus gewesen. Sieben Tore habe das Handels- und Kulturzentrum besessen, die auf Anordnung der Königin Nin-Gal stets geöffnet blieben, da sie vom friedlichen Miteinander der Völker überzeugt war. Doch Nin-Gal scheiterte an der patriarchalischen Ordnung und an der Kriegs- und Mordlust der von Männern beherrschten Gesellschaft.

Tief in die arabische Mythologie und Mentalität tauchte Al Bassam hier in diesem Stationendrama ein, das er auch als Regisseur in gut zwei Dutzend Szenen voll Sensibilität und großer Ausdruckskraft als Uraufführung auf die Bühne des Münchner Marstalltheaters hievte. Nicht nur auf Deutsch, Englisch und Arabisch (mit entsprechenden Übertiteln) lässt der inszenierende Autor dieses für Toleranz und Humanität werbende Stück spielen, sondern die deutschen und arabischen Schauspielerinnen und Schauspieler (Gunther Eckes, Marina M. Blanke, Tim Werths, Lara Ailo, Hala Omram, Dalia Naous, Mohamad Al Rashi und Bijan Zamani) schlüpfen abwechselnd in die Rollen des Archäologenteams und der Ur-Ureinwohner.

Mögen einige Szenen archaisch-arabischer Traditionen und blutrünstiger Rituale für europäische Begriffe nicht immer nachvollziehbar sein, so spannt Al Bassam hier doch sehr virtuos den Bogen zwischen der von Nin-Gal eindringlich angemahnten Völkerverständigung und deren Zerstörung durch die Hybris der totalitär Regierenden im historischen Mesopotamien über die Kolonialmentalität deutscher Herrenmenschen bis zum Terror und der totalen Zerstörungswut des sogenannten Islamischen Staates von heute. Denn die IS-Mördertruppen negieren, dass es vor dem Islam bereits blühende Hochkulturen im gesamten vorderasiatischen Raum gab, weshalb alle Erinnerungen daran ausgelöscht werden müssten.

Ein mehrsprachiges und faszinierendes Zeit-Roadie als Parabel von dem seit rund 4000 Jahren erhofften Frieden unter den Völkern nicht nur im Nahen Osten ist dieses Theaterstück, das nach all den Schicksalsschlägen im ehemaligen Königreich Ur bis zum heutigen Terror in Syrien von der Hoffnung auf Toleranz der Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen kündet.

Vorstellungen im Münchner Marstalltheater: 18. bis 20. und 22. Oktober. Kartentelefon: (089) 2185 19 40.