Die Gesellschaft sollte Bedarf von Bedürfnissen unterscheiden

10.05.2019 | Stand 02.12.2020, 14:00 Uhr

Zum Bericht "Schlechte Erfahrung mit der KVB-Bereitschaftspraxis" (SZ vom 5. März):Pro Jahr kommt es in Deutschland etwa zu einer Milliarde Arzt-Patienten-Kontakte, im Durchschnitt 17 pro Patient.

Eine im März 2019 veröffentliche Umfrage des Forsa-Instituts im Auftrag einer Krankenkasse (KKH) ergab, dass 38 Prozent der Patienten (mehr als jeder dritte) direkt die Notaufnahme im Krankenhaus trotz geöffneter Bereitschaftspraxis aufsuchen würde, auch wenn sie bei nicht lebensbedrohlichen Beschwerden Hilfe benötigen. Erschreckend sind zum Teil die angegebenen Gründe: Mehr als 40 Prozent der Befragten fühlten sich im Krankenhaus besser versorgt. Ein Viertel führte als Begründung an, dass sie in der Notaufnahme ohne einen Termin Hilfe erhalten. Zwei Prozent würden mit Bagatellbeschwerden wie einer Erkältung in die Notaufnahme gehen. 13 Prozent gaben an, dass sie so kurzfristig keinen Termin in der Arztpraxis bekommen und deshalb die Notaufnahme aufgesucht hätten.

Obwohl für viele die Notaufnahme die erste Wahl ist, unterstrich immerhin eine deutliche Mehrheit, dass sie ein Krankenhaus nur mit schweren Beschwerden aufsuchen würde. Ein Viertel wurde nach eigener Aussage vom Haus- oder Facharzt an die Notaufnahme verwiesen. Zwölf Prozent erklärten, dass ihre Beschwerden in der Arztpraxis nicht behandelt werden. Der ärztliche Bereitschaftsdienst ist für dringliche, nicht lebensbedrohliche Beschwerden gedacht, die nicht mehr bis zum Morgen warten können. Unstrittig ist, dass jeder Kranke zu jeder Zeit und an jedem Ort die erforderliche medizinische Behandlung auf dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse erhalten sollte. Die Bereitschaftspraxen und der organisierte ärztliche Hausbesuchsdienst dienen dazu, dass der Zugang aller Patienten zu den erforderlichen medizinischen Leistungen gesichert ist. 89 von 110 Bayernweit flächendeckend eingerichteten und einheitlich ausgestatteten Bereitschaftspraxen werden von der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) betrieben. Die Notdienstpraxen sind dann besetzt, wenn die Hausärzte geschlossen haben und können direkt ohne vorherige telefonische Anmeldung aufgesucht werden. Für 99 Prozent der Bürger sollen die Praxen innerhalb von 30 Minuten erreichbar sein. Diese Praxen haben am Wochenende und an Feiertagen teilweise bis 22 Uhr geöffnet. Zudem haben einige Praxen auch werktags nach 18 Uhr für einige (Notdienst-) Stunden noch geöffnet. In den übrigen Zeiten übernehmen die Dienstärzte der Krankenhäuser die Versorgung der ambulanten Patienten mit. Speziell für Kinder gibt es in unserem Versorgungsbereich die Bereitschaftspraxis am Klinikum Ingolstadt. In unseren durchgeführten Bereitschaftsdiensten haben wir es regelmäßig erlebt, dass das Angebot eines fachärztlichen Bereitschaftsdienstes in der Region 10 zum Beispiel für Kinder und Jugendliche leider nur sehr lückenhaft in der Bevölkerung bekannt ist.

Dieses Angebot der niedergelassenen Fachärzte für Kinderheilkunde- und Jugendmedizin besteht am Klinikum Ingolstadt neben der vom Praxisnetzwerk GO IN betriebenen Bereitschaftspraxis für Erwachsene jeweils mittwochs (von 16 bis 20 Uhr), samstags und sonntags sowie an gesetzlichen Feiertagen (jeweils von 9 bis 13 und von 15 bis 20 Uhr). Aufgrund einer zentralen Vermittlung des fachärztlichen Bereitschaftsdienstes über die Rufnummer 116117 mit Sitz in München kann nicht von einer Kenntnis der Örtlichen Versorgungstruktur durch den Disponenten am Telefon ausgegangen werden. Es sollte aber eine korrekte Zuweisung der Patienten zu den diensthabenden Facharztgruppen erfolgen. Im Falle des vierjährigen Jungen mit entzündetem Auge (siehe Artikel vom 5. März in dieser Zeitung) hätte eine Kontaktaufnahme mit dem diensthabenden Augenarzt nach Vermittlung über die 116117 erfolgen können. Alternativ dazu hätte die Mutter mit ihrem Sohn aus Schrobenhausen auch direkt die Kinderbereitschaftspraxis in Ingolstadt aufsuchen können. Die wichtigste Aufgabe ist es, die Anlaufstelen in unserer Region für die Bürger bekannt zu machen. Die Patienten müssen besser informiert und verstärkt gesteuert werden. Dazu sollten Politik und Selbstverwaltung intensiv nach Lösungen suchen und neue Wege bestreiten. Insbesondere im Zeitalter der Digitalisierung und des Internets wird den Bürgern suggeriert, dass alles jederzeit zur Verfügung zu stehen hat. So kommt es im Notdienst mitunter vor, dass besorgte Mütter und Väter in den Nachtstunden sogar Labordiagnostik und Abstriche verlangen. Der diensthabende Arzt war häufig tagsüber in seiner Praxis tätig und hat dann bis spät in die Nacht Bereitschaft. Nicht selten sind wir verbalen Verunglimpfungen ausgesetzt, der Ton wird forscher. Trotzdem sollte man bei der Ablehnung von Leistungen, die aus medizinischer Sicht nicht nachts durchgeführt werden müssen, stets freundlich bleiben.

Die Gesellschaft sollte wieder lernen, Bedarf von Bedürfnissen zu unterscheiden. Das Anspruchsdenken an den Arzt wird sicher nicht kleiner werden. Der Patient sollte es aber auch an sich selber richten und fragen, was kann ich selber für mich tun. Es braucht ein Gleichgewicht zwischen beidem. Das, was man selber für den eigenen Körper macht, ist viel mehr wert als das, was andere für ihn machen. Als (Vertrags-)Ärzte ist es uns nicht gestattet am Bedarf vorbei zu handeln. Die Gebote Wirtschaftlichkeit und medizinische Notwendigkeit gilt es einzuhalten. Das Wirtschaftlichkeitsgebot (§12 Sozialgesetzbuch V) gibt vor: "Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen. Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. " Hier ist auch die Politik in die Pflicht zu nehmen, den Menschen dies näher zu bringen und intensiv nach Lösungen zu suchen. Der Handlungsdruck bleibt hoch.

Dres. Stephan Meier, Alexander Robert, Anke Robert, Christina Schaal, Stephan Meier, Arzt für Allgemeinmedizin und Notfallmedizin