Pfaffenhofen
Die Entdeckung der Zeit

17.06.2010 | Stand 03.12.2020, 3:56 Uhr

Effekte der Langzeitbelichtung: In den Kulturhallen Pfaffenhofen sind ab heute Fotografien von Michael Wesely zu sehen. - Foto: Böhm

Pfaffenhofen (DK) Stell dir vor, du gehst über den Senefelder Platz in Berlin und gerätst dabei in den Sucher einer Kamera, die dich prompt fotografiert. Unsterblich von nun an dieser Augenblick der eigenen Existenz, ein Dokument des Dagewesenseins für alle Zeiten? Von wegen! Denn wenn die Kamera dem renommierten Fotografen Michael Wesely gehörte, wenn sie irgendwo hing an Hauswänden oder in Fenstern, ist man im Gegenteil ausgelöscht, als wär man nie gewesen. Keine Spur des Menschen ist in den Landschafts- und Städteansichten des 47-jährigen Wahlberliners zu finden, und von seinen Requisiten zeugen höchstens winzige Goldkringel oder -stricheleien im riesigen Format. Autos in Bewegung waren sie vielleicht einmal, nun sind sie Filigrandetails eines malerischen Duktus.

"Die Überwindung des Schnappschusses" nennt der Pfaffenhofener Kulturreferent Steffen Kopetzky, auf dessen Vermittlung der berühmte Wesely (sogar auf eine Einzelausstellung im New Yorker MoMa kann der verweisen) nun ab heute unter dem Titel "Revealing Nature" in den Kulturhallen Bilder aus den letzten acht Jahren zeigt. Und in der Tat: Der Gegenentwurf zur Momentaufnahme – und zugleich die Rückkehr zur Basis der Fotografie ist das Werk des Mannes.
 

Dabei ist seine Idee eigentlich ganz einfach. In extremen Langzeitbelichtungen fasst Wesely sein Motiv mittels Lochkamera ins Auge: 26 Monate (!) etwa waren es am Potsdamer Platz, wo er die Bauarbeiten auf dem Areal von DaimlerChrysler fotografierte – vermutlich sein bekanntestes Bild. Das ist in der Pfaffenhofener Schau zwar nicht zu sehen, doch die Arbeiten der hier gezeigten insgesamt fünf Werkgruppen (Landschaft Ostdeutschland, Landschaft Oberbayern, Berlin, Istanbul und Tulpen) folgen demselben Prinzip, zeitigen dieselbe Wirkung. Alles fließt, alles ist statisch, alles ist da, alles ist vergangen – ein Lehrstück über die Zeit als Medium des Verschwindens, über die Negierung von Zeit zugleich und nicht zuletzt über Fotografie als Mittel der Malerei sind seine Arbeiten.

Die lassen sich technisch leicht erklären: Wird sehr lang belichtet, bleibt das am längsten Unbewegte am klarsten im Endergebnis stehen, je kürzer ein "Auftritt" ist, desto mehr geht er unter bis zur finalen Ausradierung, wo sich etwas langsam ändert, entsteht die quasi körperlose Überlagerung. Darum sind Brücken, Häuser und Verkehrsschilder auf dem "Senefelder Platz" gestochen scharf, sind Verkehr, Straßencafés, Spreeschiffe unkenntliche graue Abstraktion, darum ist der im Abbau befindliche Palast der Republik ein halbtransparentes Geisterhaus, und darum ist nirgendwo ein Mensch. Immer vorhanden hingegen das, was uns beleuchtet. In Weselys Landschaftsbildern, jenen horizontal linearen, gänzlich abstrakten Ansichten, zieht sich ein schlingerndes Weiß am oberen Rand wie ein Zeitwurm von rechts nach links: Die Sonne, deren Lauf die Langzeitbelichtung wesentlich macht.

Das klingt poetisch, ist es aber nicht. Von seltsam kühler, analytischer, ja geradezu unbeteiligter Aura sind die Werke: God is watching us from a distance.