Ingolstadt
"Die Chance besteht darin, Wohnen und Arbeiten zu mischen"

Stadtplaner und Architekt Wolfgang Christ über die Zukunft der Innenstädte und den Einzelhandel – Der Experte spricht heute in Ingolstadt

20.05.2015 | Stand 02.12.2020, 21:16 Uhr

Ingolstadt (DK) Hat der Einzelhandel in den Städten noch eine Zukunft? Was muss hier passieren? Wolfgang Christ, Architekt und Stadtplaner vom Urban Index Institut, referiert heute Abend auf Einladung der Stadt Ingolstadt um 19 Uhr im Orbansaal in Ingolstadt. Der Vortrag ist öffentlich.

 

Herr Christ, Sie sprechen von einem Paradigmenwechsel bei Stadtentwicklung und Einzelhandel in den Städten. Was verändert sich derzeit so grundlegend?

Wolfgang Christ: Es gibt viele Indikatoren. Unter anderem der demografische Wandel, eine alternde Gesellschaft. Hier gilt der Vorteil von kurzen Wegen. Wir sind eine Einwanderungsgesellschaft, was sich auch an den Innenstädten abbildet. Shoppingcenter sind ja Treffpunkt für alle gesellschaftlichen Schichten. Ein anderer Indikator ist das veränderte Mobilitätsverhalten. Das Auto ist nicht mehr das Verkehrsmittel der ersten Wahl. Viele Menschen denken eher im Verbundsystem. Das sind nur einige Gründe.

 

Der Trend geht aber wieder hin zur Stadt?

Christ: Ich rede sogar von einer Renaissance der Stadt. Immer mehr Menschen wollen ihren Lebens- und Arbeitsmittelpunkt in urbanen Zentren haben. Unsere Art zu arbeiten hat sich in unserer digitalisierten Gesellschaft verändert. Es gibt hier eine Kehrtwende. Die Wertschätzung von lebendigen Quartieren nimmt permanent zu. Wir erleben das bei der Gentrifizierung. Diese ist nichts anderes als ein Zeichen dafür, wie hoch attraktiv es ist, in der Stadt der kurzen Wege zu leben. Eben dieser Gentrifizierungsaspekt sollte für uns alle eine Herausforderung sein. Es muss uns gelingen, Qualitäten zu schaffen, wo noch keine sind.

 

Was bedeutet das für den Handel?

Christ: Der geht immer dahin, wo die Menschen sind. Das war schon immer so. Im Mittelalter war es die Altstadt, in der Gründerzeit die Neustadt mit den großen Einkaufsstraßen, und nach dem Zweiten Weltkrieg ging es auf die grüne Wiese. Und heutzutage geht es mit dem Handel in die Städte zurück.

 

Gilt das für jede Stadt?

Christ: Man kann sie nicht alle über einen Kamm scheren. Wichtig ist die städtebauliche Substanz, die muss vorhanden sein, um überhaupt die Anforderungen einer Kehrtwende auch für den Einzelhandel erfüllen zu können. Es geht um Wohnsubstanz. Und damit um die Nachfrage nach Dienstleistungen und Einzelhandelsangeboten. Ohne Wohnen ist die Stadt nach Ladenschluss tot. Dort, wo Menschen wohnen, kann der Einzelhandel reagieren. Neben den großen Marken sind es auch Läden, die im Charakter lokal geprägt sind, keine standardisierten Formate.

 

Das heißt, es gibt eine Zukunft für den Handel in den Städten?

Christ: Ja, aber wir müssen uns davon verabschieden, dass es heißt, „in die Stadt zum Einkaufen gehen“. Mittlerweile scheint es so zu sein, dass immer mehr Menschen in die Stadt gehen, um zu bummeln, zu entspannen, ins Museum oder ins Kino zu gehen. Je stärker die Stadt als Anziehungskraft ist, desto stärker könnte der Handel davon profitieren.

 

Was ist die Herausforderung?

Christ: Die Digitalisierung der Konsumkultur. Der Einzelhändler muss dem Kunden erklären können, weswegen er unbedingt selbst in die Stadt gehen soll. Und die Antwort darauf zu geben, scheint schwierig zu sein, weil der Onlinehandel weiter boomt. Entscheidend ist aber, dass sich der Einzelhandel der Herausforderung stellt und nicht darauf hofft, die Entwicklung aussitzen zu können.

 

Welche Lösungen sehen Sie?

Christ: Die eine ist, bei der Digitalisierung aufzuspringen. Das heißt: Aufrüsten, Netzwerke bilden, Modelle für Kunden entwickeln. Man ist dann aber auch in der technischen Infrastruktur gefangen. Die andere Perspektive ist die, dass die Innenstadt auf all das setzt, was nicht digitalisierbar ist. Ich nenne das die analoge Innenstadt. Geschichte, Erdung, Verankerung. Es ist das Tripple-A: Atmosphäre, Authentizität und Aura. Und die Face-to-Face-Kommunikation muss wieder gepflegt werden.

 

Der Einzelhandel kann das nicht alleine stemmen. Wer muss noch mitspielen?

Christ: In dieser arbeitsteiligen Handelswelt gibt es Formate, die sind gut aufgehoben auf der grünen Wiese, andere online. Und nun geht es um die Frage, welches Stück vom Kuchen kann die Innenstadt für sich reklamieren. Grundsätzlich müssen Einzelhandel, Eigentümer der Gebäude, Kunden und Politik an einem Strang ziehen.

 

Gibt es eine Stadt, die zurzeit alles richtig macht?

Christ: Tübingen macht zurzeit vieles richtig. Dort gelingt es, neue Stadtteile mit einer hohen Aufenthaltsqualität zu schaffen. Ich plädiere dafür, für Menschen Orte zu schaffen, die attraktiv sind. Man darf das nicht der Shoppingindustrie überlassen. Was wir nicht mehr machen dürfen, ist der Siedlungsbau. Die große Chance besteht darin, Funktionen mischen zu können: wohnen und arbeiten. Und dann besteht auch die Chance, dass junge und alte Menschen in einer Straße leben. Daraus kann sich eine Grundsubstanz an Einzelhandel entwickeln. Und letztlich eine lebendige Stadtstruktur.

 

Interview und Foto: Katrin Fehr