Die Absurditäten unserer Welt im Blick

Der Konzeptkünstler Timm Ulrichs wird 80 - 120 seiner Werke befinden sich in der Stiftung für Konkrete Kunst und Design in Ingolstadt

30.03.2020 | Stand 02.12.2020, 11:38 Uhr
31 Holzstäbe mit einer Länge von 3,60 Metern: Timm Ulrichs (rechts) beim Aufbau der Ausstellung 2012 im Ingolstädter MKK. Das Werk "Mikado. Ein Gesellschafts-Riesenspielzeug" (1972/73/2010) gehört der Stiftung für Konkrete Kunst und Design Ingolstadt. −Foto: Spata, dpa/MKK

Berlin/Ingolstadt - Er ist der selbsternannte "Totalkünstler" und hat viele Genres ausprobiert: Landart, Bildhauerei, Performance, Konzeptkunst, Konkrete Poesie.

Er ließ sich tätowieren, rannte nackt bei Gewitter über das Feld oder stand als Blinder verkleidet bei der Kölner Kunstmesse in der Halle mit dem Schild um den Hals: "Ich kann keine Kunst mehr sehen. " Er hat Spielzeug ins Monströse vergrößert und Grafiken, Fotografien, Videos, Skulpturen geschaffen - geistreich, verblüffend, grotesk und witzig. Timm Ulrichs, der am heutigen Dienstag 80 Jahre alt wird, erklärte sich 1961 zum "Ersten lebenden Kunstwerk" und hat sich vor 50 Jahren schon seinen Grabstein bestellt: "Timm Ulrichs, *31.3.1940. Denken Sie immer daran, mich zu vergessen! "

In Berlin kam Ulrichs auf die Welt, seine Familie wurde erst in die Uckermark evakuiert, dann floh sie in den Landkreis Oldenburg und kam 1954 nach Bremen. Er begann ein Architekturstudium an der Technischen Hochschule Hannover, das er 1966 nach dem Vordiplom abbrach. Seit Anfang der 60er-Jahre ist er freier Künstler, war von 1969 bis 1970 Gastprofessor an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig und von 1972 bis 2005 Professor für Bildhauerei und Totalkunst an der Kunstakademie Münster. Den internationalen Durchbruch hat Ulrichs, der stets mit dem Kunstmarkt haderte, die Zusammenarbeit mit kommerziellen Galerien verweigerte und sich fast dafür schämte, wenn seine Werke heute für hohe Summen verkauft werden, nie geschafft. In Deutschland hingegen ist er hoch geschätzt und einflussreich. Er war 1977 auf die Documenta 6 eingeladen, wird von vielen Museen gesammelt und hat zahlreiche Publikationen veröffentlicht. Peter Weibel vom Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientheorie nennt ihn einen "der größten und protypischsten Künstler des 20. Jahrhunderts". Und im Februar wurde Ulrichs von der Berliner Akademie der Künste mit dem Käthe-Kollwitz-Preis 2020 geehrt. Für sein Lebenswerk, das "für nachfolgende Künstlergenerationen bis heute Fundgrube und Inspirationsquelle" sei, hießt es in der Begründung der Jury.

Auch Ingolstadt hat eine enge Verbindung zu dem Konzeptkünstler. 2012 hat Timm Ulrichs der Stiftung für Konkrete Kunst und Design rund 120 Werke überlassen, ein enormes Konvolut, wie die Direktorin des Museums für Konkrete Kunst (MKK), Simone Schimpf, schwärmt: "Wir haben somit dankenswerterweise eine sehr große und wichtige Ulrichs-Sammlung am Museum. " Eines ihrer Lieblingswerke Ulrichs' in der Stiftung ist das riesengroße Mikadospiel, auch wenn man, wie sie schmunzelnd bemerkt, im Depot irgendwie ständig darüber stolpere. "Ich schätze an diesem Ideenkünstler seine große Gabe, dass er mit Humor, oft hintersinnig und doppeldeutig die Wahrnehmung herausfordert und dadurch zum Denken anregt. "

Persönliche, aber vor allem künstlerische Verbindungen gibt es zwischen Ulrichs und dem Ingolstädter Künstler Thomas Neumaier. Die beiden haben mehrmals - auch in der Region - zusammen ausgestellt. Neumaier schätzt an Ulrichs, wie dieser die "Absurditäten der Wirklichkeit" in den Blick nimmt. Und Ulrichs hatte bei einer Ausstellungseröffnung Neumaiers 2006 formuliert. "Nicht das Fremde mit dem gewohnten Blick zu sehen, sondern das Alltägliche, Gewohnte mit anderen Augen, das ist der genuine Blick des Künstlers. Und das ist, was Thomas Neumaier [?] vorführt. " - Das gilt wohl auch für Timm Ulrichs selbst.

Und wie sieht die Wirklichkeit, die Realität in Corona-Zeiten mit dem Blick des Künstlers aus? Ulrichs sagte vor wenigen Tagen in einem Interview mit der Tageszeitung "Neues Deutschland" auf die Frage, ob das Corona-Virus auch ein Konzeptkünstler sei: "Ja, genau, denn es verändert unsere Wahrnehmung. "

DK