Ingolstadt
Der Vater aus dem Album

Gedenken an Kriegstote am Volkstrauertag

17.11.2017 | Stand 02.12.2020, 17:11 Uhr
Der Ingolstädter Alfred Musin ist ohne Vater aufgewachsen. Friedrich Musin war 1941 im Zweiten Weltkrieg gefallen - Sein Sohn kennt ihn nur vom Foto. Als Kind vermisste Alfred Musikn die Vaterfigur in seinem Leben, auch wenn Mutter Else ihr Bestes gab, ihm einen guten Start ins Leben zu bieten. −Foto: Richter

Ingolstadt (DK) Am Volkstrauertag steht diesen Sonntag das Gedenken an die vielen Kriegstoten im Mittelpunkt. Sie ließen große Lücken in ihren Familien zurück, zahlreiche Kinder wuchsen ohne Väter auf. Der Ingolstädter Alfred Musin erzählt, wie er mit seinem Leben als Halbwaise zurechtkam und was er als Schulbub vermisste.

Kann er sich noch daran erinnern, wie der Vater ihn damals auf den Arm nahm? Alfred Musin schüttelt der Kopf. Der Ingolstädter war noch keine drei Jahre alt, als seine Mutter Else die schlimme Nachricht erhielt, ihr Mann sei im Kampf gefallen. Das war irgendwann im Herbst oder Winter 1941. Mit einem Schlag stand sie allein da. Und ihr Sohn gehörte in der Nachkriegszeit zu den rund zweieinhalb Millionen Halbwaisen in Deutschland. „Ich bin ganz gut zurechtgekommen“, sagt der heute 78-Jährige im Rückblick. Da möchte er nicht klagen. Wenn er aber genauer über seine Kindheit nachdenkt, fallen ihm doch viele Situationen ein, in denen er den Vater schmerzhaft vermisste. „Ich war vielleicht sieben, als mir das erste Mal aufgefallen ist: Mir fehlt da etwas.“

Offen ausgesprochen hat Musin das als Kind nie. Seine Generation war so erzogen worden, nicht zu jammern. Schlank und rank, flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl hatte Adolf Hitler sich die Buben gewünscht und dies 1935 in einer Rede vor 54 000 Vertretern der Hitlerjugend kundgetan. Aber die Realität ist stärker als menschenverachtender Idealismus. Wenn es schmerzt, dann schmerzt es eben, da kann ein verblendeter Despot anordnen, was er will. 

Alfred Musin hatte diesen Drill, wie er in Nazi-Deutschland stattfand, ohnehin nicht mitbekommen. „Meine Vorfahren stammen aus Edenkoben in Rheinland-Pfalz und sind 1799 ans Schwarze Meer in der Ukraine ausgewandert“, erzählt er. Dort entstanden rasch neue Siedlungen mit altbekannten Namen. So war Musins Mutter in Worms zu Welt gekommen, er selbst in Karlsruhe – beides Ortsnamen in Anlehnung an gleichlautende Städte hierzulande, nur eben bei Odessa gelegen. Auch ein München gab es dort. Der kleine Alfred war im Februar 1939 das erste und einzige Kind der jungen Eheleute. „Mein Vater Fritz hat als Kraftfahrer gearbeitet“, weiß Musin aus Erzählungen. 

Was ist Friedrich Musin für ein Mensch gewesen? Sein Sohn hat später, als er heranwuchs und die Dinge besser verstand, immer wieder gefragt. Vielleicht, um seine Wurzeln besser zu verstehen, wie das oft passiert, wenn Kinder die leiblichen Eltern nicht kennen, als ob es ein Vakuum zu füllen gelte. „Er konnte für Heiterkeit sorgen, hat man mir gesagt.“ Der Vater habe gern und oft mit anderen Männern mit der „Quetschn“ gespielt, Späße gemacht und in geselligen Runden für Unterhaltung gesorgt. „Er hat 1000 Witze gekannt, nur keine politischen – da war mit den Kommunisten da drunten nicht zu spaßen. Wenn du den falschen Ton erwischt hast, warst du in Schwierigkeiten.“ So berichtete es ihm die Mutter. 

Friedrich Musin besaß außerdem Geschäftssinn. Wenn er etwa die Waren einer Fabrik von A nach B fahren musste, nahm er auf dem Rückweg die Leute am Straßenrand mit. „Die Wege da unten waren weit, und es hat keine Busse gegeben. Da hat mein Vater von jedem einen Rubel verlangt und sie hinten mitgenommen.“ Ein schöner Zuverdienst. Aber der Mann hatte offenbar zudem ein großes Herz: „Als meine Mutter einmal von einer verzweifelten Frau erzählt hat, die nach einem Krankenhausaufenthalt nicht wusste, wie sie den langen Heimweg bezahlen sollte, hat er der Fremden spontan Geld gegeben.“ Der 78-Jährige scheint noch immer beeindruckt, wenn er heute darüber spricht.

Als die deutsche Wehrmacht im Sommer 1941 in dem Schwarzmeerort und anderswo in der Region einrückt, rekrutiert sie die Männer in der Gegend. Friedrich Musin zieht in den Krieg, den er nicht lange überlebt. „Ich weiß nur, dass irgendwann im selben Jahr ein Brief gekommen ist, in dem meine Mutter von seinem Tod erfahren hat“, sagt sein Sohn. „Ich habe das Schriftstück nur einmal gesehen, leider ist es verschwunden.“ 1943, als die deutsche Front im Osten bereits stark bröckelt, flüchtet Else Musin mit dem vierjährigen Alfred über Österreich nach Deutschland. Sie enden in Ingolstadt – warum gerade hier, vermag er nicht mehr zu sagen.
Es sind gerade die Jahre darauf, in denen der junge Alfred seinen Vater besonders vermisst. Sie leben erst in einer Flüchtlingsunterkunft im Südostviertel, dann zwei, drei Jahre in der Geisenfelder Straße und beziehen von 1947 bis 1957 eine der Baracken an der Martin-Hemm-Straße gegenüber dem Hauptbahnhof. „Die Gebäude haben der Bundesbahn gehört, für die meine Mutter gearbeitet hat. Sie waren eigentlich recht schön, wir haben zwei Zimmer gehabt und einen kleinen Garten. Mir hat es da gut gefallen.“

Aber längst nicht alles. Alfred bekommt rasch zu spüren, was es heißt, Halbwaise zu sein. In der Schule erfährt er von den anderen Buben, was sie alles mit ihren Vätern unternehmen: Ausflüge, Fahrradtouren oder Fußballspielen. Und er? „Ich bin da immer ziemlich hilflos dagestanden, wenn ich das gehört habe“, sagt er heute. Übersetzt heißt das: Es hat verdammt weh getan! „Ich hab’ mich manchmal schon gefragt: Wer kümmert sich denn um mich?“ Natürlich gibt die alleinerziehende Mutter ihr Bestes, ist aber oft überfordert. „Sie hat ihren ganzen Frust und Unmut bei mir abgeladen, dabei war ich noch ein kleiner Bub. Da hab’ ich öfter gedacht: Wenn mein Vater da wäre, bliebe mir das erspart.“ Ein Vater wie der eines Mitschülers, den andere einmal geschlagen hatten. „Da ist er zum Rektor und hat dafür gesorgt, dass es nie wieder passiert. So einen Vater hätte ich mir auch gewünscht, einen, der mich beschützt.“ Einen aus Fleisch und Blut, nicht nur im Fotoalbum. „Der Mann war für mich ein Held.“ 

Mittags, nach der Schule, war oft niemand da, wenn Alfred heimkam, die Zimmer waren kalt, die Mutter in der Arbeit. „Da bin raus und hab’ mich rumgetrieben, ich war ein Gassenkind. Der Pfarrer, das war ein ganz Netter, hat das mitgekriegt und mir mal was zum Essen gegeben.“ Alfred soll schon mit zwölf Jahren Holz für den Ofen machen, schleppt schwere Bahnschwellen mit dem „Gick“, wie sie Fahrradanhänger in Bayern nennen, heim und zersägt sie – was halt sonst der Mann im Haus macht. „Später hab’ ich Gasflaschen oder Kohlen holen müssen.“

Alfred Musin ist keiner der jammert, heute noch immer nicht. Wenn er seine Geschichte erzählt, muss er lang überlegen, um die alten Emotionen hervorzukramen. Er berichtet darüber mit ruhiger Stimme, ohne Groll, und sieht nicht zuletzt das Positive: Natürlich hatte er sich nach seinem Vater gesehnt, der mit ihm spielt, ihn an der Hand nimmt und ihm die große weite Welt erklärt. „So habe ich mir halt das Meiste selber beigebracht und bin vielleicht selbstständiger geworden als andere!“