Nürnberg
Der "Stromkasten der Liebe"

In einem Nürnberger Stadtviertel ist eine ungewöhnliche Tauschbörse für die Anwohner entstanden

20.08.2018 | Stand 23.09.2023, 4:27 Uhr
Gläser, Taschen, Bücher ? oder auch mal ein Sommerkleid: Auf dem Stromkasten finden Passanten immer wieder schöne Dinge. Manche Menschen stellen dort aber auch einfach ihren Müll ab. Das ärgert die Organisatoren wie Anouschka Gläser. −Foto: Foto: Pelke

Nürnberg (DK) Einen alten Stromkasten haben Nachbarn in Nürnberg zu einer kleinen Tauschbörse umfunktioniert. Auf dem "Stromkasten der Liebe" wechseln täglich gebrauchte Gegenstände den Besitzer. Mittlerweile ist der Stromkasten in der Stadt zu einer kleinen Berühmtheit geworden.

Mit der Bekanntheit wachsen allerdings auch die Probleme. Anouschka Gläser, die sich in ihrer Freizeit um den Treffpunkt in der Nachbarschaft kümmert, kann ein Lied davon singen. "Gerade ist es richtig schlimm. Der Stromkasten wird immer mehr vermüllt", ärgert sich die Anwohnerin, die von ihrem Wohnungsfenster im zweiten Stock direkt auf die Gebrauchtwarenbörse im Nürnberger Stadtteil St. Johannis blicken kann. Rund zehn Jahre gebe es den Kasten schon.

Über den Erfinder ist nichts bekannt. Aber die Aufschrift auf dem Verteilerkasten ist geblieben: "#Stromkasten der Liebe". Dort treffe man sich nicht nur zum Stöbern, auch zum Plaudern sei er ideal, erzählt Gläser. Sogar im Netz kann die wachsende Fangemeinde das wechselnde Warenangebot auf dem Liebeskasten verfolgen. Gläser macht täglich ein Foto vom Stromkasten und stellt das Bild mit dem kostenlosen Warenangebot ins Internet (https://www.facebook.com/stromkastenderliebe).

Derweil gesellt sich eine Anwohnerin hinzu. "Gibt es etwas Schönes?", fragt die elegante Dame und erklärt, dass sie eigentlich schon alles habe, was man im Haus gebrauchen könne. "Aber die Neugier treibt mich immer wieder her", gesteht die Frau. Sie erzählt, dass sie es besonders auf Kriminalromane ("Für meinen Mann") und Kinderbücher ("Für meine süßen Enkelkinder") abgesehen habe. Gläser nickt verständnisvoll und bestätigt, dass man bislang wirklich immer wieder sehr schöne Sachen auf dem Kasten habe entdecken können. Doch zuletzt haben die beiden Anwohnerinnen auch viel Tristesse auf dem Kasten erlebt. Neulinge seien durch marktschreierische Berichterstattung angelockt worden, vermuten die beiden. Diese hätten den Liebeskasten offensichtlich mit einem Platz für Sperrmüll verwechselt.

Die meisten Freunde der Tauschbörse würden die ungeschriebenen Gesetze, die für den scheinbar gesetzlosen Tauschplatz gelten, freilich kennen. "Man sollte keine großen Sachen hinstellen", sagt Gläser und meint damit alle Gegenstände, die nicht in die Einkaufstasche passen und nach Sperrmüll aussehen könnten. Erfahrene Nutzer würden sogar verschmähte Gegenstände wieder abholen, damit der Kasten auf Dauer nicht vermüllt. Auch auf das Wetter würden bewährte Tauscher achten. "Wenn es regnet, stellt man zum Beispiel keine Sachen auf den Kasten", bringt Gläser eine einfache Faustregel auf den Punkt.

Inzwischen hat sich eine weitere Anwohnerin dazu gesellt. Gemeinsam wird über die vielen Vorzüge des Liebeskastens gesprochen: Einmal hätte sogar ein Lattenrost einen neuen Besitzer beim Stromkasten gefunden. Ein anderes Mal sei eine Gefrierkombination nach ein paar Tagen unter die Haube gekommen.

Die jüngsten Geschehnisse rund die Tauschbörse lösen dagegen Missfallen bei den drei Anwohnerinnen aus. "Zuletzt standen drei Tüten mit dreckigen Klamotten da", ärgert sich Gläser. Schnell ist sich die Gruppe einig, dass solcher Müll nicht im Sinne der nachbarschaftlichen Stromkasten-Liebe sei. Schöne Kleinigkeiten, die anderen eine Freude machen, nicht den letzten Schmarrn, bringe man zum Tauschkasten.

Derweil wünschen sich die drei Frauen ein wenig die alten Zeiten zurück, in denen der Stromkasten noch keine Nürnberger Berühmtheit gewesen ist. Dabei hoffen sie inständig, dass der Stromkasten das aktuelle Blitzlichtgewitter heile übersteht. Er sei schließlich keine Wunderfabrik, der alle sozialen Probleme der Stadt lösen könne. Aber der kleine Kasten kann ein Vorbild für andere Stadtviertel sein. Eine improvisierte Tauschbörse für die Nachbarschaft könnte es schließlich überall im Handumdrehen geben. Zum Tauschen brauche es noch nicht einmal einen Stromkasten. Das heilige Prinzip des Verschenkens funktionierte überall.

"Ich würde mich freuen, wenn unser Stromkasten viele Nachahmer findet. Das würde auch unseren Kasten entlasten", sagt Anouschka Gläser. Damit die Sache mit der Stromkasten-Liebe klappt, hier sind sich die Frauen an diesem Morgen erneut einig, sei lediglich eine intakte Nachbarschaft von entscheidender Bedeutung.

Nikolas Pelke