Ingolstadt
Der quälende Ton, den kein anderer hört

08.03.2011 | Stand 03.12.2020, 3:05 Uhr
Töne im Ohr: Tinnitus-Patienten werden von einem permanenten Pfeifen oder Brummen geplagt. Oft bleibt ihnen als einzige Möglichkeit, zu lernen, mit den Geräuschen umzugehen. −Foto: tmn

Ingolstadt (DK) Knapp neun Jahre ist es jetzt her, als sich der Ton im Ohr einnistete. Sandra Kolb (Name geändert) hatte eine Erkältung verschleppt und lag auf der Couch. "Auf einmal ging es los mit dem Pfeifen.

Ein sehr hohes Pfeifen", erinnert sich die 41-Jährige. Es beginnt auf einem Ohr – vier Wochen später hat sie es auf beiden. Weil sie in ihrem Beruf als Krankengymnastin selbst mit Tinnitus-Patienten zu tun hat, ahnt sie schon, dass der Ton so schnell nicht wieder weggehen würde. "Ich hab nur gedacht: ,Scheiße!’"

Mit diesem Leiden ist die Ingolstädterin nicht allein: Laut Informationen der Deutschen Tinnitus Liga (DTL) sind hierzulande 1,5 Millionen Menschen von ihrem Tinnitus so schwer betroffen, dass sie therapeutische Hilfe benötigen würden. Jedes Jahr erkranken rund 340 000 Personen neu an einem chronischen Tinnitus.

Sandra Kolb sucht als erstes Hilfe beim HNO-Arzt. Der Doktor verschreibt ihr blutverdünnende Medizin und Infusionen mit Cortison. Ein Viertel Jahr lang lässt sie sich damit behandeln. "Es hat aber alles nix geholfen", sagt Kolb. Also lernt sie erst einmal mit der Krankheit zu leben. Das Einzige, was ihr ein wenig Linderung verschafft, sind Hintergrundgeräusche. Also läuft jetzt meistens das Radio.

"Das erste halbe Jahr war die psychische Belastung sehr schlimm", erzählt die 41-Jährige . "Ein Außenstehender kann sich das nicht vorstellen." Sie hat nicht wie viele andere Betroffene ein Problem mit Lärm, sondern mit Stille. Vor allem das Einschlafen fällt ihr schwer.

2004 unternimmt Kolb den nächsten Anlauf. Sie sucht in München die Praxis eines Osteopathen auf. Zwei Mal. Auf eigene Kosten. Die Kasse zahlt nicht für alternative Medizin. "Aber der konnte mir auch nicht helfen", sagt Kolb. Inzwischen kommen zu dem andauernden Pfeifton im Ohr auch noch Schmerzen in der Schulter.

Doch die Ingolstädterin gibt nicht auf. Sie probiert es noch einmal mit einer alternativen Behandlungsmethode. Diesmal: Kinesiologie. Dabei werden über die Spannung bestimmter Muskelgruppen mögliche Störfaktoren herausgefiltert. Nach der Untersuchung tippt die Ärztin auf eine Entzündung im Kieferknochen.

Und tatsächlich: Nach weiteren Untersuchungen stellt ein Kieferchirurg einen Entzündungsherd fest. Dessen Behandlung schlägt an: Die Schulterschmerzen sind weg. Auch der Tinnitus lässt nach. "Er war etwa um die Hälfte reduziert", sagt Kolb.

Inzwischen hat sie sich an den Pfeifton als ständigen Begleiter gewöhnt. Meist denke sie schon gar nicht mehr daran. Bei einer Erkältung allerdings verändere sich der Ton, dann rückt die Alltagsbehinderung wieder mehr ins Bewusstsein. Vor allem Sport helfe ihr den Tinnitus zu bekämpfen – sie geht regelmäßig joggen und spielt Volleyball.

Diese Ärzte-Odysee wie sie Sandra Kolb durchgemacht hat, sei typisch für Tinnitus-Patienten, erklärt der Münchner Experte Carl Thora. Den wirklichen Durchbruch der Forschung in Sachen Heilung sieht er nicht. In 80 Prozent der Fälle verschwinde der Tinnitus innerhalb der ersten sechs Monate von alleine wieder. Die Placeboquote einer Behandlung liege bei 30 Prozent. Und genau das sei laut Thora auf die Erfolgsquote der meisten gängigen Therapien.

Inzwischen ist sich die Fachwelt aber einig, dass der Tinnitus teilweise im Ohr ausgelöst, aber vom Gehirn aufrecht erhalten wird. Und allein das gibt Vielen Hoffnung, dass die Medizin doch noch eine effektive Behandlung entwickelt. Mittlerweile werden auch die lange verschriebenen Haes-Infusionen von immer weniger Krankenkassen bezahlt. Thora findet das gut: "Die Infusionen haben nichts gebracht."

Der Münchner Experte, der selbst durch eine Schreckschusspistole einen Tinnitus erlitten hat, empfiehlt Patienten das Geräusch auszublenden. Das ist auch, was er den Betroffenen in seinem Behandlungszentrum beibringt. Doch sich damit abzufinden, dass es keine Pille gegen den Ton gibt, damit tun sich laut Thora die meisten schwer.