Beilngries
Der Himmel, unendliche Weiten

16.08.2019 | Stand 23.09.2023, 8:13 Uhr
An einem langen Seil befestigt startet das Segelflugzeug mit Hilfe einer Winde. Von oben offenbart sich dem Flieger der Blick über Beilngries. −Foto: Ammer

Beilngries (DK) Nur Fliegen ist schöner. Heißt es. Sagt man so. Was also könnte schöner sein als Fliegen? Nichts, wäre die logische Antwort. Eine Überlegung, die DK-Redakteurin Isabel Ammer dazu verleitet hat, die Probe aufs Exempel zu machen. Von Fallschirmunterweisungen, Thermik-Löchern und allerersten Flugversuchen.

In drei Sekunden von Null auf Hundert. Das Flugzeug schnellt nach oben, mein Magen hängt hinter dem Rückgrat. Jede Achterbahn: ein Dreck dagegen. Die Wolken kommen näher, die Autos werden klein. Fluglehrer Peter Pollack klinkt das Seil aus, das uns hinaufkatapultiert hat. An einem Fallschirm fällt es zurück. Ähnlich dem, den ich auf dem Rücken trage. Nur für den Notfall, falls wir springen müssten. Das Segelflugzeug legt sich leicht in die Kurve, unten schmiegt sich Beilngries in die Hügel. Unendliche Weiten, blauer Himmel durchbrochen von wattigen Wolken und eine völlig ungeahnte Freiheit liegen vor mir.


Einige Stunden zuvor: Claus Blattner - in Lederhose mit Hirschfänger - vom Luftsportverein Beilngries führt mich durch den Hangar. Flügel an Flügel warten die schnittigen Vögel auf ihren Einsatz. Vier Segelflugzeuge, ein Ultraleichtflugzeug und ein Motorflugzeug gehören dem Verein, die übrigen Flieger sind in Privatbesitz. "Das ist ein Sport, in dem man runterkommt", beschreibt Blattner. Und das, obwohl man erst mal rauf muss. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Motorflug in Deutschland zunächst verboten - der Segelflug erlebte einen Aufschwung. Seit 1951 gibt es den Verein, in Freising gegründet, zog er 1994 nach Beilngries im Kreis Eichstätt.

Ein alter Bulldog schleppt gleich zwei Flugzeuge auf einmal aufs Feld. Bereit für ihren ersten Start des Tages ist Anna Freytag. Rote Chucks, schicker Hut, Dreiviertelhose. Nach der Schule will sie Leichtflugzeugbauerin werden. Lässig schiebt sie das Segelflugzeug auf der Startbahn mit zwei Helfern in Position. Dass Anna erst 14 ist, würde man nicht denken. "Ich wollte immer schon fliegen." Und mit 13 sei sie eben mal zum Flugplatz gegangen und habe gefragt, ob sie es nicht lernen könne. Konnte sie. Die Kottingwörtherin ist aktuell die jüngste Flugschülerin in Beilngries. "Die Landungen hapern noch ein bisschen", verrät sie. Dafür klappen die Übungen gut, bei denen der Flieger absichtlich ins Trudeln gerät. Trotz des fiesen Gefühls im Magen. "Aber es ist gut zu wissen, dass man weiß, wie man sich ausgleiten kann." Nur so für den Fall. Anna Freytag hat keine Angst. Ihre Mama schon ein bisschen, der Papa ist dafür umso begeisterter vom Hobby der Tochter - und für Anna gibt es sowieso nichts Schöneres als zu fliegen: "Es ist das Gefühl frei zu sein wie ein Vogel." Sie lächelt. Wissend. Wünscht mir viel Spaß bei meinem ersten Flug.

Am Ende der Startbahn leuchtet orange ein lastwagengroßes Gefährt im Gras. "Das ist die Winde." Blattner nimmt das Stahlseil zwischen die Finger, das gleich am Segelflugzeug befestigt wird. 4,2 Millimeter ist es dick. Oder dünn. Daran wird das Flugzeug mit 300 PS nach oben gezogen. Ein bisschen wie ein Drachen an einer langen Schnur, der steigt, wenn man zu rennen beginnt - nur, dass die Winde eben sehr sehr schnell anzieht.

Fluglehrer Peter Pollack - groß, sportlich - wuchtet einen Rucksack auf meinen Rücken. Der Fallschirm. "Falls wir springen müssen." Eine Erfahrung, auf die ich gerne verzichte. "Mit der rechten Hand ganz fest ziehen", lautet seine kurze Einweisung für den Fallschirm. Ich lege probehalber die Hand auf den metallenen Griff. Stelle mir die Bewegung vor. "Nicht jetzt schon ziehen", warnt der Fluglehrer. Eh klar. Ein kleines silbernes Flugzeug baumelt an einem Band um seinen Hals. Wer den Flugschein machen will, muss vor allem eines mitbringen: Zeit. Los geht es mit Schulungen, bis hin zum ersten Alleinflug. Erst innerhalb der Platzrunde, später außerhalb. Dazwischen gibt es Prüfungen - theoretische und praktische. Wer alle Stufen durchlaufen hat, legt die offizielle Flugprüfung ab. Bis zu zweieinhalb Jahre könne es dauern, bis man so weit ist, weiß Blattner. Er selbst hat den Traum vom Fliegen schon als Kind geträumt und mit 17 seinen Schein gemacht. Heute mag er es am liebsten, wenn es raucht, stinkt und lärmt: Sein Faible ist die Oldtimerfliegerei.

Die Fluglehrer arbeiten ehrenamtlich, die Prüfungen kosten rund 2000 Euro. "Man ist preislich in der Größenordnung von einem Autoführerschein", sagt Blattner. Geflogen werden kann bis ins hohe Alter - jeder muss selbst wissen, wann es Zeit ist, aufzuhören. Vorausgesetzt, man besteht die regelmäßigen Gesundheitschecks: ab 50 jedes Jahr, ab 70 jedes halbe Jahr. "Fliegen ist mental sehr anspruchsvoll", weiß der Vorsitzende des Vereins, Martin Stiefel. Er ist quasi mit dem Fliegen groß geworden, war schon als Kind mit dem Onkel auf dem Flugplatz.

"Man überlässt nichts dem Zufall, um alle Risiken zu minimieren", erklärt Blattner. Auch Pollack checkt das Flugzeug vor unserem Start genau durch. Fliegen werde oft mit Unfällen und Gefahr verbunden, aber das sei recht oberflächlich. Vielmehr sei es ein verantwortungsvolles Hobby, voll von Abläufen und Checks, "nur die Routine darf sich nicht einschleichen". Passieren kann natürlich immer etwas, das weiß auch Blattner. "Das größte Risiko ist der Mensch selbst."

Die Kanzel des Segelflugzeugs ist winzig - nicht nur von außen, auch von innen. Wie in einem tiefergelegten Sportwagen, nur mit Scheiben wenige Zentimeter links und rechts von mir. Der Flugschüler sitzt vorne, ich schiebe die Beine in die vorgesehenen Aussparungen. Pollack zeigt mir, wie ich den Gurt mit einer halben Drehung öffnen kann. Sollten wir aus dem Flugzeug springen müssen, darf ich die Bewegung nicht vergessen haben - sonst nützt der ganze Fallschirm nichts. Er selbst schwingt sich hinter mir in die Kanzel. Wie eng es für ihn ist, will ich mir gar nicht vorstellen. Auf Anweisung schließe ich die durchsichtige Abdeckung über mir. Augenblicklich wird es wärmer. Beklemmung statt Freiheit. Draußen hängt jemand das Flugzeug ans Seil der Winde, prüft, ob es sich auch lösen lässt. "Bereit?", fragt Pollack. "Bereit!" Ich stecke meine Daumen vorsichtshalber unter den Gurt vor meiner Brust, um mich nicht beim Start versehentlich an irgendeinem Teil des Flugzeugs festzukrallen, das wichtig wäre. Das Funkgerät knackst, eine verzerrte Stimme erteilt die Flugfreigabe.

In zwei Richtungen können Flieger in Beilngries starten - nach Westen und Osten. Wichtig ist: gegen den Wind. Große Flugplätze sind deshalb quadratisch, um einen Start in jede Richtung zu ermöglichen. "Fliegen ist Physik", weiß Blattner. Gerade mit der Thermik muss sich der Pilot auskennen. Blauer Himmel mit Häufchenwolken sei das perfekte Wetter, beschreibt Stiefel. Denn: "Die Wolken zeigen an, wo Thermik entsteht." Sonnenstrahlen erwärmen Luft in Bodennähe, diese steigt und erzeugt einen Aufwind. In höheren Schichten kondensiert sie und bildet Wolken. Der Pilot fliegt deshalb mit seinem Segelflugzeug von Wolke zu Wolke, nutzt den Auftrieb darunter, um in Kurven höher zu steigen. "Die Wolken sind wie eine Autobahn, der man folgt", verdeutlicht Stiefel. So fliegt der Profi fast ohne Höhenverlust.

Das Seil vor mir spannt sich. Ich starre es an: Gleich geht es los. Ein Ruck presst mich in den Sitz. Der Lamborghini Murciélago mit 640 PS beschleunigt von Null auf Hundert in 3,34 Sekunden. Wir schaffen es in drei. Das Flugzeug holpert einen Wimpernschlag über die Startbahn, verliert den Bodenkontakt. Ich halte die Luft an. Wir rasen dem Himmel entgegen. Schneller. Höher. "Ich hänge jetzt das Seil aus." Pollack zieht hinter mir den gelben Hebel. Der Druck der Beschleunigung lässt nach. Einen nach dem anderen löse ich meine Finger vom Gurt, horche in mich hinein: Sind noch alle Organe da oder haben wir auf dem Weg nach oben eines verloren?

Es ist ganz still. Da ist nur der Wind. Wie ein zarter weißer Vogel gleitet das Segelflugzeug über die Welt, lässt sich von den Strömungen tragen, schraubt sich in engen Kurven mit der Thermik empor. Die Enge des Fliegers hat sich in eine unvorstellbare Weite gelöst. Rund um mich ist nur noch Himmel. Es ist, als säße ich mitten im Blau, 400 Meter über der Welt, Tendenz steigend. Jede Kurve offenbart eine Spielzeugwelt: Landwirtschaftliche Maschinen dreschen sich durch Felder so groß wie Taschentücher. Sie hinterlassen Schneisen wie dunkle Filzstiftstriche im goldenen Getreide. Kühe kaum größer als Ameisen weiden neben der Sulz. Winzige Radfahrer strampeln auf Wegen, die wie Schnüre zwischen den Hängen entlangführen. So weit das Auge reicht hält der Fluss als blaues Band alles zusammen, dieses Miniaturwunderland. Und ich weiß jetzt, was die Flieger meinen: Alle Wünsche und alle Sorgen, sie bleiben einfach dort unten zurück. Ob ich auch mal fliegen will, fragt Peter Pollack.

Die Nadel zeigt 800 Meter über dem Boden, Geschwindigkeit: 100 km/h. Ich bewege den Steuerknüppel leicht nach links. Klopfenden Herzens. Sehr sehr vorsichtig. Nichts passiert. Etwas mehr. Das Flugzeug neigt sich in die Kurve. Ein Gefühl, das meine Welt verändert. Ich fliege. Ich. Fliege. Nach links, aber auch nach unten. Der Boden. Weit weg, aber doch beunruhigend. "Steuerknüppel nach hinten", weist der Fluglehrer an. Ganz entspannt. Ich ziehe, der Vogel streckt die Nase gen Himmel. Wolken schräg über mir. Wir steigen. Werden ein wenig langsamer. Ein Bussard kreist ein Stück neben uns. Wo er fliegt, ist die Thermik. Hat mir Martin Stiefel erklärt. Ich fühle mich eins mit dem Vogel, auch mir sind soeben Flügel gewachsen. Ein gelbes Licht blinkt auf in einem Kreis aus Lämpchen um ein kleines Flugzeugsymbol. Ein anderer Pilot ist in unserer Nähe - schräg rechts besagt die Anzeige. Dort sehe ich ihn, einige Wolken weiter auf der Thermikautobahn. Winzig klein schwebt er da, frei wie der Vogel. Etwas ruckelig halte ich selbst die Höhe und einigermaßen die Waagrechte. "Wir wollten doch Richtung Beilngries", sagt Pollack von hinten. Ohne dass ich es bemerkt habe, sind die schmucken Türmchen weit nach links geglitten. Der Profi übernimmt wieder. All die Achsen, auf die man achten soll - und das bei all dem Glück, das man fassen muss...

Die Landung ist sanft wie ein Versprechen. Eines, das ich dem Segelflugzeug gerne geben würde: auf ein Wiedersehen.

Isabel Ammer