Der Fantasie freien Flug lassen

03.07.2008 | Stand 03.12.2020, 5:47 Uhr

Vom Zehner geht der Blick hinab in die Tiefe auf jene, die sich aus 7,50 Metern Höhe zu springen trauen. Was schließlich auch schon eine Leistung ist. - Foto: Herbert

Ingolstadt (DK) Schwül ist es, kein Lüftchen regt sich. Am Horizont braut es sich etwas blauschwarz zusammen. Vom Münster schlägt es drei: Um die Zeit wird der Zehnerturm geöffnet. Dort oben trifft man die echten Kerle, die drei Badehosen tragen, weil es cool ist und bei Arschbomben schützt.

Bördy, der junge Koch vom Rappensberger, ist einer der heimlichen Stars der Ingolstädter Turmspringer. Er kommt immer in seiner Mittagspause ins Freibad: "Ich mach’ nur einen Sprung zum Abkühlen, dann leg’ ich mich zum Schlafen hin", sagt der 19-Jährige und blinzelt müde in den bleigrauen Sommerhimmel.

Die nassen Leiber bilden eine schmale Gasse, durch die sich der junge Mann langsam und lässig nach vorne schiebt. Kurz bleibt er an der geriffelten Kante stehen, alle auf dem Turm halten für einen Moment die Luft an, dann stößt sich Bördy ein wenig ab, macht einen schlaksigen Salto und landet einigermaßen elegant im Wasser. Man merkt sofort: Der 19-Jährige hat sich absichtlich keine große Mühe gegeben dieses Mal. Das ist wahrscheinlich unter seiner Würde. Aus einem Meer von Wasserblasen taucht der blonde Haarschopf wieder auf.

Oben auf dem Zehner wuselt wieder alles durcheinander, ordnen sich die Reihen neu. Jene, die noch zaudern, werden nach hinten geschoben. Nun sind die Clowns an der Reihe. So wie Ralph, Kushtrim und Eugen, der mit acht Jahren von seinem Bruder vom Zehner geschubst wurde, weil er sich nicht selber getraut hatte zu springen. Die drei Burschen diskutieren ewig hin und her, wer rechts, links und in der Mitte, wer zuerst oder zuletzt hinunterhupft. Das gehört wahrscheinlich mit zu ihrer Inszenierung. Die Bademeisterin unten bläst ungeduldig in die Trillerpfeife, "eins, zwei, drei", zählen die Burschen, dann fliegen die Körper kurz hoch, alle Viere von sich gestreckt, bevor es abwärts geht ins tiefe Türkis.

Statt Fallschirmspringen

Blass und bibbernd steht Claudia zwischen den ganzen Buben. Von ihrem Zopf tropft es nass hinab, die langen Wimpern sind vom Wasser verklebt. Die Zehnjährige umschlingt ihren dünnen Leib mit den Armen, als habe sie Angst hier oben. Ist aber nicht so: "Ich bin schon mit acht Jahren alleine runtergesprungen – einfach so, weil es cool war. Ich hab’ damals oft Fallschirmspringer im Fernsehen angeschaut, und das fand’ ich toll." Und weil man kleine Kinder nicht aus dem Flugzeug springen lässt, klettert Claudia halt einfach auf den Zehner. "Mal sehen, vielleicht mach’ ich heut eine Arschbombe."

Claudia macht einen Schritt ins Nichts, schreit "Tschüüüss", winkt über die Schulter und geht dann doch auf Nummer sicher mit einer "Kerze", so wie die meisten. Es gibt jedoch welche, die lassen ihrer Fantasie freien Lauf – oder besser: freien Flug. So wie der braun gebrannte Albert mit dem dicken, falschen Diamanten im Ohrläppchen, der stolz erzählt, dass er am Samstag dreizehn wird. Albert ist ein Freestyler: Er stößt sich ab, krümmt sich erst zusammen, nimmt dann eine Haltung an wie ein Flughörnchen, um sich kurz vorm Aufprall – den Zuschauern stockt der Atem in Erwartung eines fürchterlichen Bauchplatschers – wieder zusammenzukrümeln. Bei so einer Sprungnummer geht es um Tausendstelsekunden. Zufrieden stemmt sich Albert aus dem Becken.

Der Zehner leert sich langsam. Zurück bleiben jene, die noch zögern. Andreas steht zum ersten Mal hier oben und kann einfach das Gitter nicht loslassen: "Scheiße, ist das tief." Auch Jonas klammert sich noch fest: "Ich bin heuer zum ersten Mal im Freibad, und hab’ noch zu viel Angst", gibt er mutig zu und erklärt: "Nach dem Sprung sind immer meine Fersen so taub." Flo und Daniel zählen jetzt schon zum dritten Mal "eins, zwei, drei", schauen sich dann an und schimpfen: "Du Blödmann, spring’ doch endlich!" "Nein, du zuerst." Am Ende klettern sie einmütig wieder die Leiter hinab.

Vielleicht klappt’s beim nächsten Mal. "Die, die mehrmals vor zur Kante und wieder zurück gehen, die springen nicht", weiß Peter Leibnitz von der Wasserwacht, der regelmäßig Aufsicht hat im Freibad. Auch er ist schon gesprungen, als kleiner Bub. "Ich war in der fünften Klasse und konnte gerade schwimmen. Mein Vater hat gesagt, dass er mir zehn Mark gibt, wenn ich mich trau’. Und so bin ich runter. Er war sehr stolz auf mich, denn damals sind noch nicht so viele wie heutzutage gesprungen."

Doch auch heute noch sei der Sprung vom Zehner etwas Besonderes für die Jugendlichen: " Dieses Gefühl von Beschleunigung hat man sonst nie", so Leibnitz. Deshalb sei es auch gut so, dass wieder ein hoher Sprungturm gebaut wurde – einem Großstadtfreibad würdig.