Ingolstadt (DK) Diese Krankengeschichten berühren: Da ist der 20-jährige, lebenslustige Perückenmacher Georg Grosch, der 1836 an der Lungenschwindsucht stirbt. Ein Perückenkopf steht für ihn in einer Vitrine, in der benachbarten ist ein diagnostisches Besteck aus dem 19. Jahrhundert ausgestellt.
In diesen Vitrinen begegnen sich Arzt und Patient. Nicht nur Reiche gingen zum Arzt. Auch Bäcker, Bäuerin oder Müllersknecht konnten sich in vergangenen Jahrhunderten medizinische Hilfe leisten. Mit so manchen lieb gewonnenen "Wahrheiten" räumt die Ausstellung "Praxiswelten" im Deutschen Medizinhistorischen Museum auf.
Sie vermittelt spannende Einblicke in den Alltag von Ärzten des 17. bis 20. Jahrhunderts und erfüllt den Anspruch des Museums, Medizingeschichte verständlich zu vermitteln, in besonderer Weise. Denn hier werden nicht nur Forschungsergebnisse anschaulich präsentiert, sondern auch die akribische Forschungsarbeit, die sie hervorbrachte, beleuchtet. "Wir wollen Sie animieren, sich als medizinhistorische Detektive zu betätigen", kündigte Thomas Schnalke seinen Zuhörern an, als der Leiter des Berliner Medizinhistorischen Museums der Charité gemeinsam mit Marion Ruisinger, Leiterin in Ingolstadt, in die Ausstellung einführte. Tatsächlich muss es akribische Feinarbeit gewesen sein, den handschriftlich und noch dazu auf Latein verfassten Praxisjournalen acht verschiedener Ärzte aus vier Jahrhunderten ihre Geheimnisse zu entlocken. In Journalen zeichneten Ärzte Krankengeschichten, Diagnosen, Therapien, Honorare und vieles mehr auf. Sie sind die Vorläufer der Krankenakten, Gedächtnisstützen für den Arzt. Manche enthalten Abkürzungen oder geheimnisvolle Zeichen, die es zu entschlüsseln galt.
Bevor der Besucher die vier Doppelpraxen im Sonderausstellungsraum des Museums betritt, findet er auf einem Tisch die dazugehörigen Journale aufgeschlagen, daneben ein Heftchen, indem er blätternd die Arbeit der Forscher nachvollziehen kann. Die Vitrinen in den Praxen sind als Begegnungsinseln konzipiert. Jeweils ein Exponat, das den Arzt symbolisiert und eines, das für den Patienten steht, begegnen sich auf Augenhöhe - "wie es allerdings nie war", wie Schnalke anmerkt. Auf Kontextfeldern sind charakteristische Wesenszüge der Praxis dargestellt, dazu gibt es medizinische, gesellschaftliche und kulturelle Hintergrundinformationen.
Über den theoretischen Wissensstand und berühmte Ärzte sei vieles bekannt, aber sehr wenig über den Alltag des gewöhnlichen Arztes, erklärte Michael Stolberg, Projektleiter der Würzburger Forschungsgruppe, die Intention des Forschungsprojektes, das Journale ganz unterschiedlicher Ärzte aus Sachsen-Anhalt, Thüringen und Nürnberg, aus dem schweizerischen Thurgau, der Stadt Biel, dem Südtiroler Ahrntal sowie den Krankenbesuchsanstalten der Universitäten Würzburg und Göttingen untersuchte. Das früheste gehörte Johannes Magirus (1615-1697), der Arzt und Mathematiker mit Faible für die Astronomie war. Er ließ Planetenkonstellationen in die Therapie einfließen. Gottfried Wachter war ländlicher Laienheiler, Friedrich Paul von Benninghausen arbeitete als Homöopath, Franz von Ottenthal als Landarzt in Südtirol. Die Ausstellung zeigt keine Entwicklung auf, sondern öffnet einzelne Fenster, es wurde bewusst darauf verzichtet, einen Zusammenhang künstlich herzustellen. Wer die vielschichtige Ausstellung besucht, sollte Zeit mitbringen - es lohnt sich, Krankengeschichten zu lesen und festzustellen, dass sich eigentlich wenig geändert hat. Schon damals gab es Modekrankheiten wie die "Gebärmutter-Erstickung", Patienten, die mit ihren Ärzten zufrieden waren und Ärzte, die sich über Patienten ärgerten, die ihre Ratschläge nicht befolgten.
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