Belo
Der Anti-Löw

Was Argentiniens Nationalcoach Alejandro Sabella vom Bundestrainer unterscheidet

10.07.2014 | Stand 02.12.2020, 22:29 Uhr

Belo Horizonte (DK) Das Erscheinungsbild beim argentinischen Nationaltrainer ist ein anderes als beim Bundestrainer. Alejandro Sabella ist nur fünf Jahre älter als Joachim Löw, aber der Abstand wirkt gewaltiger. Die wenigen grauen Haare in der Kopfmitte legt der in Buenos Aires geborene Sabella sehr akkurat über seine hohe Stirn zurück, was ihn irgendwie weise erscheinen lässt. Zumal, wenn der 59-Jährige noch seine Brille trägt. Sabella zieht sich oft ganz anders an als der deutsche Kollege. Weit weniger modisch. Mitunter stülpt er sich eine ulkige weiße Kappe über den Kopf, bei der es Geschmackssache ist, ob sie einem Granden wie ihm wirklich steht.

Was auch noch auffällt: Wie häufig der Coach der „Albiceleste“ auf dem „Cidade do Galo“, dem Trainingsgelände des in Belo Horizonte beheimateten Erstligisten Atlético Mineiro, eine Taktiktafel mit sich herumträgt. Ständig hat er das metallene Ding dabei, so als müsse er Lionel Messi schnell noch neue Laufwege aufzeichnen. Das Klemmbrett unter dem Arm gehört zu Sabella wie zu Löw der um den Hals gewickelte Seidenschal. Bloß eines sollte niemand vor dem Endspiel am Sonntag in Rio de Janeiro tun: diesen Fußballlehrer zu unterschätzen.

Die meisten verorten ihn irgendwo zwischen César Luis Menotti und Carlos Bilardo; es heißt immer, er bewege sich zwischen den Antipoden des offensiven „Menottismo“ und des defensiven „Bilardismo“. Zur Erinnerung: Menotti führte die Argentinier 1978 zum WM-Titel im eigenen Land, und dessen damaliger Kapitän Daniel Passarella hatte dann Mitte der 90er Jahre als Nationaltrainer das Sagen. Als dessen langjähriger Assistent diente der treue Sabella. Im Gegenzug hatte er Anfang der 80er Jahre die Ehre, als Spieler unter Carlos Bilardo Anweisungen empfangen zu dürfen, der mit Argentinien 1986 die WM-Trophäe in Mexiko gewann. Bilardo ist heute Direktor für alle argentinischen Auswahlmannschaften und derjenige mit dem größeren Einfluss, aber wenn es Sabella schafft, im Maracanã wieder ein bisschen mehr Menotti beizumischen als im Halbfinale gegen die Niederlande, dann könnte auch Sabella ein Weltmeistertrainer werden. Zum Volksheld fehlt gleichwohl noch ein wenig.

Als Sabella noch selbst Fußball spielte – anfänglich bei River Plate, für eine Saison bei Leeds United in der englischen Liga, dann in seiner besten Zeit bei Estudiantes de La Plata und am Ende noch bei Gremio Porto Alegre in Brasilien und CD Irapuato in Mexiko – hat man ihn dem Spitznamen „Pachorra“ verpasst. Das bedeutet so viel wie Trägheit oder Phlegma und sollte die bedächtige Spielweise des damaligen Mittelfeldspielers beschreiben. Als Trainer hat er sich dann auch nicht in einen verwandelt, der als Energiebündel oder Einpeitscher wahrgenommen wird. Im Gegenteil. Im hybriden Umfeld seiner Landsleute, die aktuell irrsinnige Anstrengungen unternehmen, um leidenschaftlich ihre Lieblinge vor Ort anzufeuern, scheint Sabella mit seiner zurückhaltenden Art das lebende Kontrastprogramm.

Wer den 2011 installierten Nationaltrainer Argentiniens vorher nicht kannte und das erste Mal in einer Pressekonferenz in Brasilien erlebte, glaubte schnell, einem Langeweiler zuhören zu müssen. Sabella kennt die Vorwürfe zur Genüge. Er hat sie in diesen aufregenden Wochen gar nicht zu entkräften versucht. Wer bei Sabellas Ausführungen fleißig mitschrieb und später auf den Block blickte, hat sich oft gefragt, was von den Antworten denn zum knackigen Zitat taugen könnte. Ehrlich gesagt: nicht viel. Und doch bestehen an der Fachkenntnis und dem Instinkt dieses Mannes, der nach eigenem Bekunden selbst mit Messi derzeit „nur noch das Nötigste“ bespricht, keine Zweifel.

Seitdem die argentinische Delegation ins Quartier in Vespasiano in der Nähe der 2,5-Millionen-Einwohnerstadt Belo Horizonte einzog, sei seine Reputation beinahe täglich gewachsen, heißt es aus dem Umfeld. Er kann subtilen Witz mit gehörigem Trotz paaren – und hat dabei stets ein offenes Ohr. Etwa für Messis Wünsche. Als sich der Megastar für die Gruppenspiele nach mehr offensiven Mitstreiter sehnte, schlug ihm Sabella das Verlangen nicht ab. Aber als sein heimlicher Kapitän Javier Mascherano für das Viertelfinale gegen Belgien mehr defensive Unterstützer einforderte, baute er den Abfangjäger Lucas Biglia ein. Den 28-jährigen Lazio-Legionär hatte wie den 33 Jahre alten Martin Demichelis niemand zuvor für die Aufstellung auf dem Zettel. Sabella schon. In einer offiziellen Fifa-Beschreibung heißt es: „Für seine offene Art und seine Zugänglichkeit ist der Trainer bei den Spielern sehr beliebt.“ Und von sich selbst sagte er einmal, er möchte als ein Mensch in Erinnerung bleiben, „der eher darauf bedacht war, zu einen als zu spalten.“

Doch jedem kann er es auch nicht recht machen: Für den Querulanten Carlos Tevez war kein Platz im Kader, was zu aufgeregten Debatten bei vielen „Gauchos“ führte. Fast trotzig tragen noch einige argentinische Anhänger den Namen Tevez auf dem Rücken ihrer Trikots in die WM-Stadien, doch danach ruft niemand mehr. Stattdessen applaudieren sie artig allen Auserwählten des Pragmatikers, der ihnen als profunder Trainer gebracht hat, was zuvor José Pekerman und Diego Maradona nicht schafften. Der eine wechselte bei der WM 2006 in Deutschland falsch aus, der andere stellte sich bei der WM 2010 in Südafrika viel zu sehr selbst in den Mittelpunkt – das Aus im Viertelfinale gegen Deutschland war die logische Folge. Der Masterplaner Sabella ist bei der WM 2014 in Brasilien schon viel weiter gekommen. Ein Sieg fehlt noch zur endgültigen Krönung für einen, der zumindest äußerlich ein Anti-Löw ist.