Ingolstadt
Das Wüten der Welt

21.02.2010 | Stand 03.12.2020, 4:14 Uhr

An dem Tag, an dem London den Zuschlag für die Olympischen Sommerspiele 2012 bekam, sprengten vier Selbstmordattentäter die U-Bahn. Von diesem 7. Juli 2005 erzählt das Stück (mit Victoria Voss, Sabine Wackernagel, Ole Micha Spörkel und Ralf Lichtenberg). - Foto: Olma

Ingolstadt (DK) Eine blaue 7 sprüht Victoria Voss an die Wand. Denn es ist der 7. Juli 2005, von dem Simon Stephens’ Stück handelt. Der Tag, an dem in London Selbstmordattentäter während des Berufsverkehrs vier Bomben in drei U-Bahn-Zügen und einem Bus zündeten – und mit sich 52 Menschen in den Tod rissen.

Aber in Sandrine Hutinets Inszenierung im Großen Haus des Theaters Ingolstadt beginnt mit der 7 auch der Countdown. Mit jeder Szene kommt man dem großen Knall näher. Nach der 1 hebt die erste Detonation an. Dann die zweite. Die dritte. Die vierte. Und während die Echos dieses barbarischen Wütens der Welt widerhallen, füllen die Geister der Toten den Raum.

Obszönitäten des Alltags

Aus dem Off werden 52 Kurznachrufe angestimmt. 52 Biografien – auf ein, zwei kurze Sätze verknappt, die sich vermengen, überlagern, ununterscheidbar werden. Während die acht Schauspieler stumm stehen und starren. Wie sie (als Spiegelbild des Publikums) die ganzen zwei Stunden lang voyeuristisch die Episoden verfolgt haben, all die Obszönitäten des Alltags, die Grenzüberschreitungen, die Gewaltausbrüche von Stephens’ Figuren.

"Pornographie" lautet der Titel des 2007 uraufgeführten Stücks. Und obwohl es nicht (oder zumindest nur am Rande) um Sex geht, hatten sich wohl viele Zuschauer von dem Titel abschrecken lassen. Bei der Premiere am Freitagabend blieben einige Plätze unbesetzt. Schade, denn Stephens’ Alltagsetüden erzählen in kluger dramatischer Analyse viel von den kleinen Brandherden einer modernen, großstädtischen Gesellschaft. Von der Isolation inmitten eines ständig plappernden multimedialen Kommunikationsgefüges. Vom Fremdsein im eigenen Leben. Von Angst und Gewalt. Von der Lähmung und vom Getriebensein. Vom Exhibitionismus im Zeitalter des Terrors.

Sein Stück präsentiert sich als lose Episodenfolge, die "in jeder beliebigen Abfolge" und "mit beliebig vielen Schauspielern" aufgeführt werden kann. Da gibt es etwa eine überforderte junge Mutter, die der Konkurrenz einen geheimen Firmenbericht zuspielt. Einen Schüler, der seine Lehrerin verfolgt. Ein Geschwisterpaar, das eine inzestuöse Beziehung beginnt. Den Attentäter. Es sind Momentaufnahmen aus der Hölle, getarnt als Normalität. Stephens beherrscht die Kunst des Uneindeutigen. Unmerklich schleichen sich Gewalt, Misstrauen, Zorn an, aus Verzagtheit wird Trotz, aus Beklommenheit Rache, die kleine Welt gerät aus den Fugen, man stürzt aus der Mitte des funktionierenden Systems über den schmalen Grat zwischen Moral und Schamlosigkeit in Abgründe, aus Opfern werden Täter, tickende Zeitbomben – unerkannt inmitten der Gesellschaft. So wie auch die Selbstmordattentäter in Großbritannien sozialisiert worden waren.

Eine Versuchsanordnung

Regisseurin Sandrine Hutinet inszeniert das Stück als Versuchsanordnung. Von Bühnenbildner Matthias Schaller hat sie sich einen hermetisch abgeschlossenen, von gleißendem Kunstlicht durchdrungenen Raum schaffen lassen, mit vergitterten Lüftungsschlitzen oben und türlosen Ritzen zu beiden Seiten (die aber nicht in die Freiheit, sondern höchstens ins labyrinthische Nirgendwo führen). Unter Laborbedingungen wird hier der Mensch getestet. Und alle sehen zu – mit Amüsement, mit Abscheu. Aber alle sind Gefangene. Werden bestaunt und seziert wie Insekten unterm Mikroskop.

Zwei Stunden höchster Eindringlichkeit schafft Hutinet. Und das verdankt sie in erster Linie einem großartigen Ensemble: Victoria Voss, Ole Micha Spörkel, Peter Reisser, Vera Weisbrod, Richard Putzinger, Ralf Lichtenberg, Julia Maronde und Sabine Wackernagel treffen präzise diesen sonderbaren Ton aus nervöser Energie, fiebriger Angespanntheit, schmerzhaftem Sehnen und gefährlicher Entschlossenheit, der allen Figuren zu eigen ist. Und vor allem: Es gelingt ihnen, den feinen Schwankungen innerhalb ihrer Charaktere wie der Situationen nachzuspüren. Gerade die kippeligen Stellen, das Umkehren der Verhältnisse, das Ringen mit sich selbst, das Leiden am Chaos: Das zeigen alle mit beeindruckender Schauspielkunst. Sie kommen uns nahe, rühren uns, erflehen unser Erbarmen. Am Ende gibt es dafür keinen lauten Jubel, aber minutenlangen, intensiven Beifall – ein starkes Stück, eine starke Inszenierung.