Ingolstadt
Das Wahrzeichen, das nie gebaut wurde

12.11.2018 | Stand 02.12.2020, 15:15 Uhr
Brücke in die Zukunft: Stephan Braunfels' Entwurf sollte das Dallwigk mit der Donau verbinden. −Foto: Braunfels

Ingolstadt (DK)Die Diskussion um den "Wolkenbügel" für die Sammlung des Museums für Konkrete Kunst will nicht abreißen - auch wenn der Entwurf keine Chancen auf Realisierung hat. Für viele Bürger ist er längst Symbol einer verfehlten Kulturpolitik.

Es gibt architektonische Wahrzeichen von Städten. Und es gibt Wahrzeichen, die eigentlich gar nicht existieren, weil sie nie gebaut wurden. Sie geistern in den Diskussionen herum, die Entwürfe von ihnen werden weitergereicht, immer wieder bewundert, abgelehnt, diskutiert. Sie entfalten einen Einfluss, bei dem die meisten tatsächlich existierenden Bauwerke niemals mithalten können.

Ein solches potenzielles Wahrzeichen in Ingolstadt ist der Museumsentwurf mit dem schönen Titel "Wolkenbügel". Man könnte einen Artikel über dieses nie erbaute Bauwerk mit dem berühmten Satz beginnen: "Ein Gespenst geht um in ?". Anders als beim "Kommunistischen Manifest" von Karl Marx und Friedrich Engels geht es beim "Wolkenbügel" allerdings nicht um die Morgenröte eines hereinbrechenden Zeitalters. Überhaupt nicht. Wenn eines gewiss ist, dann das: Der Entwurf von Stephan Braunfels aus dem Jahr 2000 wird niemals realisiert werden. Das ist bereits seit acht Jahren klar. Eigentlich könnte man alle Akten zum Thema zuklappen, sich jeden Gedanken über das T-förmige Gebäude, das so attraktiv in die Donau kragt, sparen. Denn längst wird ein gänzlich anderes Konzept verwirklicht. Die Ingolstädter Sammlung Konkreter Kunst und Design wird in der Gießereihalle auf dem Kavalier-Dallwigk-Gelände eine neue Heimat finden. Das wird von den meisten Ingolstädtern nicht einmal wirklich bedauert. Man hat sich damit abgefunden. Der Ingolstädter "Wolkenbügel" schwebt längst im Wolkenkuckucksheim.

Und dennoch: Keine Diskussion über Stadtidentität, über Ingolstadts Kulturleben, über die Bebauung des Gießereigeländes, über die Attraktivität der Stadt, bei der der "Wolkenbügel" nicht urplötzlich wiederauftaucht - als mahnender Untoter der Stadtgeschichte.

18 Jahre hält Braunfels-Bauwerk nun schon Ingolstadt in Atem. Kein anderes Bauwerk konnte solche Wirkung entfalten, schon gar nicht die tatsächlich realisierten. Natürlich, über die Details des Entwurfs spricht heute keiner mehr. Auch nicht darüber, ob es sich hätte realisieren lassen in der Form, in der ihn Braunfels gezeichnet hat. Darum geht es nicht. Es geht um etwas anderes: Um die kraftvolle Geste, die mit dem "Wolkenbügel" verbunden ist. Um die Kühnheit, den Mut, mit der er das architektonische Antlitz der Stadt verändert hätte. Es wäre das kongeniale Gebäude geworden, Konkrete Kunst auszustellen, da es selber die Formsprache dieses Stils aufgreift. Es hätte wie kein anderes Bauwerk Ingolstadt symbolisch an die Donau herangeführt. Es hätte spannungsgeladen der starken Formensprache des Dallwigk in einem 90-Grad-Winkel einen Kontrapunkt geliefert.

Gegen den Entwurf sprach eigentlich nur eins: Vielen Ingolstädtern ist er zu waghalsig, allzu sehr gewaltige Geste.

Aber dieses Gefühl der kulturellen Minderwertigkeit war keinesfalls ausschlaggebend dafür, dass der Braunfels-Entwurf niemals realisiert wurde. Grund war ein geradezu lächerliches Missgeschick des Architekten. Ein Scheitern an einer Formalie. Zehn Jahre gärte es in Ingolstadt, zwischen 2000 und 2010. Endlos wurde über den genialischen Entwurf geredet und gestritten. Als die Stadt dann endlich auf dem Weg dazu war, ihn vielleicht doch noch zu realisieren, stellte sich der Architekt selbst ein Bein - und beförderte seinen Plan endgültig ins Aus. Braunfels gab beim zweiten Wettbewerb seinen überarbeiteten Entwurf für das Kunst- und Designmuseum zwei Tage nach Ende der Ausschreibungsfrist ab.

Die anderen Entwürfe, die fristgerecht eingereicht wurden, gefielen der Ingolstädter Stadtregierung allerdings inzwischen nicht mehr. Man wollte eigentlich schweren Herzens den Braunfels-Plan. So bekam am Ende kein Architekturentwurf des Wettbewerbs den Zuschlag. Die Stadtregierung unter der Leitung des damaligen OB Alfred Lehmann stellte kurzerhand die Weichen in eine ganz andere Richtung. "Das ist nicht das, was wir erwartet haben", sagte der OB in einem DONAUKURIER-Interview am 22. Juli 2010. "Nachdem wir innerhalb der Verwaltung die Vorschläge diskutiert haben, habe ich befürchtet, dass keiner der Entwürfe eine Mehrheit bekommt. Wir glauben einfach, dass die Erwartung der Bevölkerung an ein solches Museum an der Donau eine andere ist, als diese Entwürfe sie erfüllen."

Kein Wunder, dass daraufhin die SPD-Opposition von einer "Provinzposse erster Güte" sprach. Nach einer damals bereits 20 Jahre währenden Diskussion entschied man sich am Ende für eine Lösung, die in ihrer Ambitionslosigkeit kaum mehr zu überbieten ist.

Denn das Museum sollte nun in die Gießereihalle wandern. Es spricht Bände, dass die Kunstsammlung nach dem Entwurf des rhetorisch geschickt für sein Projekt werbenden Peter Sapp in den Keller wandert, während die Struktur des Fabrikgebäudes eigentlich kaum angetastet wird - fast schon eine architektonische Nulllösung. Auch wenn der Entwurf weder hässlich noch geschmacklos ist, sogar einen gewissen Reiz entfaltet, so ist er doch ein Totalverzicht auf große Gesten und den Willen, etwas Besonderes, Ungewöhnliches, etwas Identitätsstiftendes zu schaffen, das auch über die Stadtgrenzen hinaus Besucher anzieht.

Und der "Wolkenbügel" - ist nun kaum mehr als ein Symbol. Ein Zeichen für städtische Mutlosigkeit. Für viele ein Sinnbild für das, was in Ingolstadt im Kulturleben falsch läuft. Deshalb auch kam 2015 die Aktion "Achtung Kultur" auf, mit der Künstler und Kulturfreunde auf den Wert und die identitätsstiftende Bedeutung des Kulturlebens aufmerksam machen wollten.

Nicht dass Ingolstadt wirklich unter einem bedrohlichen Mangel an Kultur leidet. Nicht dass Ingolstadt wirklich schlecht regiert wird. Keineswegs. Der kulturelle Anspruch könnte in dieser Stadt, seit sie Großstadt ist, nur ein klein wenig anspruchsvoller sein. In anderen Städten, wie in Hamburg mit seiner Elbphilharmonie oder in der 2000-Seelen-Gemeinde Blaibach bemüht man sich, wenn man einen repräsentativen Kulturbau errichtet, es nicht nur ganz gut zu machen. "Wir wollten den besten Konzertsaal der Welt bauen", sagte der Architekt Peter Haimerl kürzlich bei einer von der Alf-Lechner-Stiftung und vom DONAUKURIER veranstalteten Podiumsdiskussion, um zu erklären, wie es zu dem faszinierenden Entwurf kommen konnte. Diese Mentalität des "Think Big" vermissen viele engagierte Bürger in der Stadt.

Dabei hat die Stadt viel zu bieten. Zunächst außergewöhnliche Finanzkraft im Vergleich zu den meisten anderen Kommunen. Dann: eine wirklich ungewöhnliche bayerische Geistesgeschichte im Umfeld einer der wichtigsten Universitäten der Neuzeit mit Denkern wie dem Luther-Gegenspieler Johannes Eck, mit dem Gründer der Illuminaten Adam Weishaupt, mit den Mathematikern Philipp Apian und Christoph Scheiner usw. Die Stadt beheimatet das einzige deutsche Exilorchester, das Georgische Kammerorchester, das lange Zeit als eins der international besten Kammerensembles der Welt galt. Und Ingolstadt ist Firmensitz einer der renommiertesten und erfolgreichsten Automobilfirmen der Welt: Audi. So viel bayerische geistesgeschichtliche Relevanz, soviel Internationalität, soviel Erstklassigkeit und Format verlangt nach mehr Mut. Es muss einfach mal der große Wurf sein. Der Anspruch, das Beste für Ingolstadt zu tun.

Das wird von vielen kulturinteressierten Bürgern Ingolstadts vermisst - besonders auch, wenn sie die Bebauung des Gießereigeländes betrachten. Große Hoffnungen verbanden sich mit diesem Filetstück am Ufer der Donau. Es gab die Erwartung, etwas Spektakuläres zu errichten, ein Leuchtturmprojekt. Und was ist herausgekommen? Eine künstlerisch unscheinbare Audi-Akademie, ein Dallwigk-Ausbau für das Digitale Gründerzentrum mit einem eher belanglos wirkenden Turm und einem unorganisch um das Gebäude herumorganisierten Treppenaufgang. Ein Museum, das im Untergrund verschwindet, ein Hotelbau wie aus dem Baukausten der Maritim-Reihe. Und schließlich ein leidlich originelles Kongresszentrum sowie das langgestreckte Carissma-Gebäude.

Es ist nicht überraschend, dass da Luftschlösser wie der "Wolkenbügel" ein langes postmortales Nachleben haben.

Chancen gibt es dennoch. Etwa bei den Kammerspielen, die das Angebot des von Hardt-Waltherr Hämer gestalteten Stadttheaters erweitern soll. Mehr als 50 Jahren nach dem kraftvollen und gelungenen Kulturbau besteht die Möglichkeit für Ingolstadt, noch einmal ein Zeichen zu setzten. Die Stadt sollte nun diese Gelegenheit wahrnehmen.
 

PODIUMSDISKUSSION

Im zweiten Teil der Reihe mit Podiumsdiskussionen über Stadtidentität im Lechner-Museum geht es um aktuelle Ingolstädter Bauprojekte. Der Titel der Veranstaltung des DONAUKURIER und der Alf-Lechner-Stiftung am 20. November, 19.30 Uhr: „Dallwigk und Co. – Wie viel Mut braucht Ingolstadt?Die Rolle von repräsentativen Bauwerken in der Stadtentwicklung.“ Diskutieren werden u. a. Stadtbaurätin Renate Preßlein-Lehle, Ingolstadt, Ueli Zbinden, Mitglied im Gestaltungsrat der Stadt Ingolstadt sowie Reiner Nagel, Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur. Der Eintritt ist frei. DK