Hilpoltstein
"Das verfolgt mich heute noch"

07.05.2010 | Stand 03.12.2020, 4:02 Uhr

Im Dezember 1944 entstand dieses Bild, das den damals 17-jährigen Georg Ascher zeigt, kurz bevor der Soldat im Viehwaggon an die Ostfront kam. - Fotos: privat

Hilpoltstein (HK) Georg Ascher war ein 17-jähriger Bauernjunge, als er im November 1944 zur Wehrmacht eingezogen und im Viehwaggon an die Ostfront nach Polen gekarrt wurde. Aber Ascher hat nicht gekämpft. Die Rote Armee überrannte seine Einheit, für den Pierheimer begann eine abenteuerliche Flucht.

Georg Ascher holt ein Fotoalbum aus dem Wohnzimmer. Der 83-jährige geht schwerfällig, nach einem Arbeitsunfall ist sein Knie kaputt. "Da bin ich so viel zu Fuß gelaufen und jetzt tut mir jeder Schritt weh", sagt er lächelnd. Er deutet auf ein unscheinbares, weißes Haus. "Da war das mit dem Russen", sagt Ascher. "Das mit dem Russen" passierte in der Nacht vom 8. auf den 9. April 1945 im polnischen Zehden. Wenn der 83-jährige Georg Ascher heute davon erzählt, steigen ihm die Tränen in die Augen. Auf der Flucht haben ihn damals russische Soldaten auf einem Pferdewagen mitgenommen und zusammen mit zwei Mädchen und drei jungen Frauen in das weiße Haus verschleppt. Nachts kommt ein betrunkener russischer Soldat ins Haus und will die Frauen vergewaltigen. "Die haben gejammert und gesagt, ich soll doch auf die Kommandantur gehen." Die Hilfe ist nur von kurzer Dauer. Der Soldat kommt zurück und ist wütend auf Georg Ascher. "Das war wie in Winnenden. Der hat im Zimmer herumgeschossen und geschrien. Dann hat er mich gepackt und mir die Pistole auf die Brust gesetzt. Ich hab’ Todesangst gehabt", erzählt Ascher mit feuchten Augen. Doch entweder ist dem russischen Soldaten die Munition ausgegangen oder der Revolver hat Ladehemmung. Ascher überlebt jedenfalls. "Der Russe ist eingeschlafen und wir sind sofort geflüchtet."

Ascher kommt wie durch ein Wunder mit dem Leben davon. Und ein Menschenleben zählt damals wenig im polnischen Frontgebiet. Überall durchkämmen russische Soldaten das Gebiet, jeder Ort im Oderbruch verfügt über ein großes Gut mit einer Brennerei. Den Schnaps verleiben sich die Rotarmisten ein. Und Georg Ascher muss sich durchschlagen. "Wir haben gezittert, wenn es Nacht wurde und wir haben gezittert, wenn es Tag wurde", sagt Ascher. Jede Minute kann die letzte sein. Oft helfen Zufälle, manchmal nur Wunder.

Georg Ascher war damals gerade 18 Jahre alt. Außer dem elterlichen Bauernhof in Pierheim und die Volksschule in Meckenhausen, die er sieben Jahre lang besucht, kennt er nichts. "Wir haben fast keine Lehrer gehabt damals. Das wichtigste war, dass man in den Krieg geht." Im Juni 1943, mit 16, wird Ascher gemustert. Weil er aber wegen eines Blinddarmdurchbruchs sehr schwächlich ist, wird er zurückgestellt.

Im November 1944, kurz vor seinem 18. Geburtstag, zieht die Wehrmacht Georg Ascher ein. Nach vier Wochen Ausbildung in Erlangen geht es im Viehwaggon an die Ostfront nach Lowitsch an der Weichsel. Ascher ist Grenadier. "Die Front war nicht weit weg. Wir haben die Geschütze gehört", erinnert sich Ascher. Er und die ebenfalls blutjungen Kameraden seiner Einheit sollen noch ausgebildet werden. Dann soll es an die Front gehen. Ein Offizier hält noch eine Abschiedsrede gehalten, dann soll es losgehen.

Doch die Front ist schon da. Rund 60 russische Panzer nehmen Mitte Januar 1945 Aschers Kaserne unter schweren Beschuss, Tiefflieger jagen die fliehenden Soldaten. "Wir haben g’schaut, dass wir in den Wald gekommen sind", erinnert sich Ascher. Nur sein Ausbilder, ein Feldwebel, und er kommen wieder aus dem Wald zurück. Zusammen fliehen sie quer durch den Oderbruch in Richtung Westen. Sie wollen zurück nach Westdeutschland.

Alles ist voll mit russischen Soldaten. "Nachts sind wir gelaufen, am Tag haben wir uns versteckt." Doch schon am 23. Januar scheint die Flucht zu Ende. An der Warthe ist die Brücke zerstört, eine Gruppe von deutschen Soldaten lagert am Ufer, das Maschinengewehrfeuer kommt unaufhaltsam näher und es gibt keine Aussicht auf die Überquerung des Flusses. "In meiner Verzweiflung habe ich einen Rosenkranz gebetet", erzählt Georg Ascher. Eine halbe Stunde später kommt ein Mann aus dem nahen Dorf und bietet Ascher und seinem Ausbilder an, beide mit einem Paddelboot über die Warthe zu bringen. "Ich musste mit den Händen die Eisschollen vom Boot weghalten, es war minus 20 Grad kalt. Irgendwann waren meine Hände erstarrt. Ich konnte die Eisschollen nicht mehr weghalten. Wir sind umgekippt und kopfüber in die Warthe." Für Georg Ascher bedeutet das den sicheren Tod. Er kann nicht schwimmen. Aber der Mann aus dem Dorf zieht ihn wieder aus den eiskalten Fluten. "Das war ein Wunder", sagt Ascher.

Auf einem ehemaligen Gutshof bei Bellin schlupft Ascher unter. Er verbrennt sein Soldbuch und seine Uniform, auch Bilder, die er als frisch gebackener Soldat hat machen lassen, wirft er schweren Herzens in den Ofen. Eine Frau gibt ihm Zivilkleider eines geflüchteten polnischen Arbeiters. "Die Hose war so groß, die habe ich mit einem Strick um den Bauch gebunden", erinnert sich Georg Ascher. Weil er so klein ist, gibt er sich fortan als 13-Jähriger aus.

In der Latzkower Mühle finden Ascher und sein Ausbilder Unterschlupf. Als der Feldwebel zum Aufbruch drängt, bleibt Ascher zurück. "Ich konnte nicht mehr. Ich hatte drei Wochen fast nichts gegessen und nicht geschlafen." Selbst Ohrfeigen stimmen ihn nicht um. Der 18-Jährige versteckt sich in Zwischenböden vor russischen Soldaten, die immer wieder die Mühle durchsuchen. Am 28. Februar 1945 beginnt die Rote Armee eine große Offensive. Alle Dörfer werden evakuiert. Ascher irrlichtert durch die Gegend, manchmal alleine, manchmal in kurzfristigen Zweckgemeinschaften. Einmal findet er mit drei Landsern ein verlassenes Haus. Sie schlachten vier Hennen, die sie im Stall finden, verheizen die Stühle im Ofen, kochen die Hühner und wärmen sich auf. "Plötzlich reißt einer die Tür auf und vier Russen stehen vor uns. Die sind so erschrocken, dass sie gleich wieder weg sind", erzählt Ascher. Er lebt in ständiger Furcht.

Als er einmal auskundschaften soll, ob die Latzkower Mühle noch bewohnbar ist, stößt er auf der Straße auf einen deutschen Wagen, neben dem zwei erschossene deutsche Soldaten liegen. Einer davon ist in seinem Alter. Der Anblick erschüttert Ascher so sehr, dass er sich an den Straßenrand setzt und den Rosenkranz betet, den ihm seine Mutter mitgegeben hat. "Erwischt es mich auch noch", fragt er sich damals.

Heute sitzt der streng gläubige Ascher in der dunkelbraunen Küche seines großen Bauernhauses in Pierheim. An der Wand ein Bild von ihm und dem ehemaligen Eichstätter Bischof Mixa, von ihm und Papst Johannes Paul II. auf dem Petersplatz in Rom. Den Rosenkranz an der Wand hat er zum 80. Geburtstag vom Vatikan geschenkt bekommen.

Für die Kirchenzeitung hat er seine Erlebnisse in dem Buch "Weit ist der Weg zurück ins Heimatland" aufgeschrieben. Immer wieder kreisen seine Gedanken um die Erlebnisse aus dem furchtbaren Krieg. Immer wieder kehren die Bilder zurück. Die Leichen am Straßenrand, die Schreie der Frauen, ein altes Ehepaar, verlassen, die Pulsadern aufgeschnitten. "Das verfolgt mich heute noch", sagt Ascher. 14 Mal hat der Pierheimer inzwischen Polen besucht, die Orte, durch die er 1945 irrlichterte. "Das kann man nicht wiedergeben", sagt Ascher über seine Gefühle im Krieg.

Damals sei er einfach weiter, ohne groß nachzudenken. "Wir waren ja ganz dasig." Ascher versucht, über die Mulde zu kommen. Mehrere Anläufe scheitern. Als nach Kriegsende die Russen die Grenze an die Saale verlegen, gelingt endlich der Übergang. Ascher fährt mit dem Zug nach Berlin und von dort Richtung Weimar. "Die Scheiben waren eingeschlagen, die Leute saßen auf dem Dach. Ich bin auf dem Trittbrett mitgefahren." Endlich ist er im Westen.

An der Autobahn bei Hermsdorf spricht Ascher einen amerikanischen Soldaten an, der einen Militärlaster fährt. Der nimmt ihn mit bis ins zerbombte Nürnberg. Am Bahnhof fragt Ascher ein altes Mütterchen, wo denn die Autobahn nach Allersberg sei. Die Frau, die nach Kornburg läuft, zeigt Ascher den Weg – allerdings den falschen. Das merkt er, als er das Schild "Schwabach" liest. "Da bin ich plötzlich zusammengefallen." So kurz vor Pierheim verlaufen, das war zu viel. Am 6. Juli 1945 schleppt sich Georg Ascher nach sechsmonatiger Odyssee mit letzter Kraft zu Verwandten in Roth. Die wollen, dass er bei ihnen übernachtet, aber Ascher schlägt das Angebot aus: "Ich habe mich geschämt, ich hatte Läuse, Flöhe und Lumpen und habe gestunken." Ascher leiht sich ein Fahrrad und macht sich auf den Weg nach Pierheim. Als er ankommt, sind seine Eltern im Stall. "Die konnten es gar nicht glauben, meine Mutter hat geweint. Schließlich galt ich als vermisst bei den Russen", erinnert sich Georg Ascher an die glückliche Heimkehr. "Das ganze Dorf ist zusammengelaufen. Ich war ja einer der Ersten, der zurückgekommen ist von den Russen. Viele hatten noch Männer im Krieg, die wollten wissen, wie das ist."

Auch Georgs Bruder Karl kehrt lebendig aus dem Zweiten Weltkrieg heim, drei Tage vor Georg. Aschers Mutter beschließt zum Dank eine Wallfahrt nach Altötting zu machen. Die beiden Brüder und sie laufen die ganze Nacht betend um die Wallfahrtskirche. 1995, 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, stiftet Georg Ascher ein Feldkreuz, das auf dem Weg nach Meckenhausen zwischen zwei Linden steht. Die Bank davor nutzen Radler im Sommer gerne zur Rast. Auf dem Gedenkstein steht: "Im Kreuz ist Heil, im Kreuz ist Leben, im Kreuz ist Hoffnung."