Ingolstadt
Das Rätsel der mustergültigen Schulnoten

Im Missbrauchsprozess wurden Zeugnisse verlesen und der psychiatrische Gutachter gehört

05.12.2016 | Stand 02.12.2020, 18:57 Uhr

Ingolstadt (DK) Kann es sein, dass zwei Mädchen, die angeblich daheim über Jahre hinweg regelmäßigen sexuellen Übergriffen ihres Vaters ausgesetzt sind, in der Schule so gut wie überhaupt keine Probleme haben, sich im Gegenteil von Zeugnis zu Zeugnis mit ganz überwiegend guten bis sehr guten Noten hervortun, zwei reibungslose Übertritte schaffen und schließlich beide ein Einserabitur hinlegen?

Wenn man so will, ist das das große Rätsel hinter dem Missbrauchsfall, der nun seit einigen Wochen am Landgericht verhandelt wird (DK berichtete). Der angeklagte 44-jährige Ingolstädter bestreitet bekanntlich alle Vorwürfe seiner heute 20 und 21 Jahre alten Töchter, und sein Verteidiger Klaus Wittmann (Levelingstraße) hat am gestrigen Verhandlungstag darauf bestanden, dass das Gericht die mustergültigen Jahreszeugnisse und die Abiturzeugnisse mit allen Noten durch Verlesen in die Beweisaufnahme einführte.

Die 5. Strafkammer unter Vorsitz von Thomas Denz hatte zuletzt bereits den Schulleiter des betreffenden Gymnasiums als Zeugen angehört, dem aber laut Aussage nie irgendwelche negativen Besonderheiten bezüglich der beiden Schülerinnen zu Ohren gekommen waren. Gestern konnte der noch kurzfristig geladene Oberstufenkoordinator ebenfalls nichts Aufhellendes zu der Frage beitragen, ob sich seinerzeit im Schulalltag nicht doch mal fragwürdige Vorkommnisse in der Familie der Mädchen angedeutet haben könnten. Er jedenfalls, so der Pädagoge, habe nichts dergleichen erfahren.

Bei der Polizei und gegenüber verschiedenen Sozialpädagoginnen hatten sich die jungen Frauen, die erst im vorigen Jahr - als sie längst in München studierten - Anzeigen gegen den Vater erstattet hatten, sehr wohl und durchaus detailliert über ihre angeblichen vormaligen Erlebnisse daheim in Ingolstadt geäußert. Die Leiterin eines Frauenhauses im Allgäu, wo die Studentinnen nach ihrer Flucht aus der väterlichen Wohnung vorübergehend untergebracht waren, schilderte dem Gericht, dass die Neuankömmlinge von ihren anhaltenden Ängsten vor Beobachtung oder Verfolgung durch den Vater berichtet hatten. Andererseits hatte zu diesen Befürchtungen nicht so ganz gepasst, dass die ältere Tochter schon mal in abendlicher Dunkelheit alleine am Ortsrand joggte und die jüngere bis in die Nacht in einem angesagten Lokal bediente.

Breiten Raum (nämlich gut zwei Stunden) nahm am gestrigen Verhandlungstag die Erstattung und Hinterfragung eines psychiatrischen Gutachtens ein. Ein Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie hatte die beiden Belastungszeuginnen untersucht. Er ist zu dem Schluss gekommen, dass beide Frauen unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, die aber erst nach ihrer Flucht von daheim zutage getreten und nach allen dem Arzt vorliegenden Informationen durch Übergriffe des Vaters ausgelöst worden sein dürften. Dafür spreche zum Beispiel, dass in angeblichen Albträumen meistens der Vater vorkomme. Die guten Schulnoten erklärt sich der Gutachter durch einen Überkompensationseffekt: Die Mädchen könnten sich in ihrer Not in einen Lernzwang hineingesteigert haben.

Verteidiger Wittmann zeigte sich, was diese Deutung angeht, äußerst skeptisch. Er folgt der Einlassung seines Mandanten, wonach die Töchter aus einem Rachemotiv heraus erfundene Anschuldigungen erhoben haben könnten. Kenntnisse über Symptome für eine posttraumatische Belastungsstörung, so das Argument der Verteidigung, könnten sich die hochintelligenten Frauen auch im Internet angelesen haben.

Beim nächsten Verhandlungstermin am kommenden Montag soll plädiert werden.