Ingolstadt
"Das Horrorszenario schlechthin"

Eineinhalb Jahre nach Autobahnunfall mit zwei getöteten Kindern läuft nun die juristische Aufarbeitung

24.10.2017 | Stand 02.12.2020, 17:18 Uhr
Das Auto des Unfallverursachers an der Mittelleitplanke auf der A 9 bei Denkendorf. Der Wagen war bei einer langen Schleudertour mehrmals mit Hindernissen kollidiert - auch mit dem Van einer Familie, deren beide Söhne bei dem schrecklichen Unfall starben. −Foto: Reiß

Ingolstadt (DK) Einer der schwersten und tragischsten Verkehrsunfälle der vergangenen Jahre auf der A9 wird seit gestern vor dem Ingolstädter Amtsgericht juristisch aufgearbeitet. Ein heute 50-jähriger Münchner hatte im Mai 2016 bei Denkendorf eine Kollision verursacht, bei der zwei Kinder ums Leben gekommen waren.

Der Mann muss sich wegen fahrlässiger Tötung verantworten. Für das Verfahren sind zwei Verhandlungstage angesetzt worden. Gestern konnte die Beweisaufnahme weitgehend durchgezogen werden; insbesondere ein unfallanalytisches Gutachten nahm breiten Raum ein. Plädoyers und Urteilsverkündung werden jedoch erst für den 7. November erwartet.

Ein Beamter der Ingolstädter Verkehrspolizei, der an jenem Dienstagnachmittag im Mai vorigen Jahres mit einem Kollegen als erste Streifenbesatzung am Unfallort eingetroffen war, sprach gestern im Zeugenstuhl vom "Horrorszenario schlechthin", vom "worst case", also vom schlimmsten Fall, mit dem man bei einem Einsatz zu rechnen habe. Der mit sechs Personen besetzte Van einer türkischen Familie war durch die Aufprallwucht teils regelrecht zerfetzt, der Motorblock explodiert und herausgerissen worden.

Die beiden acht und neun Jahre alten Söhne des Ehepaares aus Erding - sie waren dem Gutachten zufolge wahrscheinlich nicht angeschnallt gewesen - waren von den Rückbänken ins Freie geschleudert und dabei so schwer verletzt worden, dass ein Kind offenbar sofort tot war, das jüngere kurz darauf in einer Klinik starb. Auch beide Eltern und die beiden Schwestern der getöteten Buben waren erheblich verletzt worden; die jüngere Tochter - Zwilling des älteren Jungen - so schwer, dass sie gut drei Wochen im Koma lag. Dieses Kind habe "wie durch ein Wunder" überlebt, sagte die heute 39-jährige Mutter gestern als Zeugin. Alle Überlebenden, auch der Angeklagte, befinden sich inzwischen seit vielen Monaten mit posttraumatischen Belastungsstörungen in psychologischer Betreuung.

Der Unfallverursacher, angestellter Geschäftsführer einer kleineren Münchner Firma, war an diesem Tag auf der Heimfahrt von einem Geschäftstermin in Nürnberg gewesen. Es war ein Tag mit gelegentlichen Schauern; abschnittsweise war die Autobahn nass, stellenweise zumindest noch feucht von vorherigen Regenfällen. So war es nach übereinstimmender Aussage von Zeugen auch im Unfallbereich in Fahrtrichtung München zwischen dem Kindinger Berg und der Anschlussstelle Denkendorf.

Der BMW-Fahrer aus der Landeshauptstadt hatte offenbar den Eindruck gehabt, nach der schnell durchfahrenen Steigungsstrecke bei Kinding auch auf der Höhe auf leicht feuchter Fahrbahn nicht sonderlich verzögern zu müssen. Dass ein Verkehrsschild hier bei Nässe ein Tempolimit von 80 Stundenkilometern gebot und bereits zuvor Schleudergefahr auf einer Strecke von elf Kilometern ausgeschildert worden war, hatte er offenbar nicht so ernst genommen.

Er habe keine Gischt von vorausfahrenden Autos bemerkt und sei deshalb mit etwa 150 Stundenkilometern auf der linken Spur unterwegs gewesen, als es plötzlich von hinten links im Auto metallisch gekracht und er die Kontrolle über sein Auto verloren habe, ließ der 50-Jährige sich gestern ein.

Über seinen Anwalt hatte der Mann zum Prozessauftakt mitteilen lassen, dass ihm das gesamte tragische Geschehen "unheimlich nahe" gehe und dass es ihm "wahnsinnig leid" tue. In den eineinhalb Jahren seit dem Unfall hatte er allerdings nie Kontakt zu der Opferfamilie aufgenommen - was ihm die Eltern der getöteten Kinder übel genommen haben. Er habe einfach "aus Angst und Scham" heraus keinen Weg gesehen, sich zu erklären, so der geknickt wirkende Angeklagte.

Das Unfallgutachten sagt aus, dass sich anhand der Unfallspuren - der BMW touchierte erst die Mittelleitplanke, dann den auf der mittleren Spur fahrenden Van, dann eine Betonwand am rechten Fahrbahnrand und schoss schließlich quer über alle drei Spuren wieder in die Mittelleitplanke - beim Unfallverursacher eine Ausgangsgeschwindigkeit von 174 bis 184 km/h errechnen ließ. Der Van war vor der Kollision demnach mit etwa 125 km/h unterwegs gewesen. Dieses Auto war durch den seitlichen Zusammenprall mit dem BMW derart "abgeschossen" worden, dass es sich gedreht hatte und rückwärts ebenfalls in die Betonwand geknallt war. Dabei waren die Kinder aus dem Wagen geschleudert worden.

Ein technisches Versagen an Fahrwerk, Radaufhängung oder Bremsen des BMW hält der Gutachter praktisch für ausgeschlossen, sodass als Unfallursache vor allem die unangepasste Geschwindigkeit des Fahrers im Raum steht. Vorsitzende Gabriele Seidl machte klar, dass es für den Angeklagten "um sehr viel geht". Wahrscheinlich droht ihm eine Gefängnisstrafe.