Ingolstadt
Das ewige Geheimnis der Identität

Walter Kiesbauers Symphonische Dichtung "Kaspar Hauser" fasziniert im Festsaal des Stadttheaters Ingolstadt

10.06.2019 | Stand 23.09.2023, 7:21 Uhr
Imposanter Klangkörper: 135 Mitwirkende haben "Kaspar Hauser - Aenigma aeternum" des Komponisten Walter Kiesbauer, der auch Musikalischer Leiter am Stadttheater Ingolstadt war, in der Donaustadt aufgeführt. −Foto: Schaffer

Ingolstadt (DK) "Hic iacet Casparus" ("Hier liegt Kaspar"), hebt ein mächtiger Trauerchor in fugenartiger Eindringlichkeit an, auf Lateinisch zu deklamieren - und besingt damit im Prolog die Grabstein-Inschrift des wohl geheimnisumwittertsten Findelkindes des 19. Jahrhunderts, das auf dem Ansbacher Friedhof seine letzte Ruhe fand.

"Kaspar Hauser - Aenigma aeternum" hat Komponist Walter Kiesbauer davon inspiriert seine großangelegte und vielschichtige Symphonische Dichtung genannt. Entstanden und uraufgeführt anlässlich der letztjährigen Kaspar-Hauser-Festspiele, erklang sie nun auch im Festsaal in Ingolstadt.

Der Zeitpunkt hätte dafür passender kaum gewählt sein können: Schließlich war Kaspar Hauser als seltsamer, verwahrloster 16-jähriger junger Mann an Pfingsten 1828 wie aus dem Nichts in Nürnberg erschienen. Bis heute geben seine nach wie vor nicht zweifelsfrei geklärte Herkunft und sein mysteriöses Schicksal Rätsel auf. Kiesbauer nähert sich diesem erschütternd nebulösen Stoff (den er bereits 2010 als Musical vertonte) nicht, wie man es gerade von ihm vielleicht erwarten könnte, auf szenisch-narrative Weise, sondern diesmal in assoziativ-abstrakter, freier Form.

Unter seiner profunden Leitung lässt er ein großes, um moderne Percussion-Instrumente erweitertes Symphonieorchester, bestehend aus dem Symphonischen Salonorchester Ingolstadt, dem Ansbacher Kammerorchester und Orchestermitgliedern der Weihenstephaner Musikwerkstatt, sich gemeinsam mit einem gewaltigen Chor, namentlich dem Projektchor Ingolstadt, dem Campus-Chor Garching der TU München sowie Chormitgliedern der Weihenstephaner Musikwerkstatt, auf eine fast filmmusikalisch sich auftuende Rückblende aus elf "Klangbildern" begeben. Darin zeichnen die Musiker und Sänger exemplarisch markante Motive aus Kaspars Leben nach, beleuchten ihn als schutzlos-verletzliches, zerbrechliches Individuum, illustrieren aber auch das politische Ausmaß seiner tragischen Geschichte.

Das dramatische Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen bringen sie einerseits in zarten, fragilen, elegischen Melodiegespinsten zum Ausdruck, andererseits in wuchtigen, machtvollen, regelrecht zermalmenden Klangblöcken, mal im Staccato vorwärtsdrängend, mal in marschierender Unerbittlichkeit. In eindrucksvoller Balance zwischen Subtilität und Prägnanz greift der gigantische Apparat von 135 Mitwirkenden die hin- und hergerissenen Gemütszustände des sogenannten "Kindes von Europa" auf: Leicht, herzlich und innig agieren die Mitwirkenden im anmutigen, volksliedhaften Tanz, den Hauser so liebte, zu einem anakreontischen Gedicht; von Schrecken und Todesahnungen geplagt dagegen erschauern sie während eines atonalen Albtraums voller flirrender Tremoli, heftiger Clusterballungen oder abrupter Erschütterungen, aus denen heraus der Chor lautmalerische Fantasie-Vokalisen zischt, faucht, brüllt und so dem wirren Gestrüpp in Kaspars Kopf nachdrückliche akustische Gestalt verleiht.

Besonders deutlich wird der exotische Kontrast zwischen Hauser als mühsam sozialisiertem Einzelcharakter, der stets um seine Identität, um seine Zugehörigkeit ringt, und der ihn irritierenden Zivilisation anhand der Schilderung einer feinen Tanzgesellschaft. Unvermittelt brechen hier plötzlich Verfremdungen, völlig andere, jazzig verzerrende Musikstile herein, die Holzbläser greifen zu den Saxofonen und mutieren zur Bigband. Einer von vielen aussagekräftig gelungenen Kunstgriffen. Die ganz intime, menschlich-private, empfindsame Seite von Kaspar Hauser rückt der imposante Klangkörper bei einer bewegend sehnsüchtig gesungenen poetischen Gedichtstrophe von Hauser selbst in den Fokus.

Aber auch durch Lyrik von Paul Verlaine (in Stefan Georges deutscher Übersetzung) porträtiert er feinsinnig kommentierend, warum der berühmte Findelknabe als Inbegriff der in der Welt verlorenen Seele gilt. Sogar Hausers Mentor, der Jurist Anselm Ritter von Feuerbach kommt in einem schwebend-sphärisch umgesetzten Zitat zu Wort. Tief lässt einen das mit der ansonsten wohl nur schwer zu fassenden, unaussprechlichen Verbrechens-Thematik in Berührung kommen. Alle Stimmungsschattierungen, dynamischen Tempowechsel und wirkungsvoll austarierten Wendungen ziehen den Hörer wie ein Sog hinein in den Strudel aus tonmalerischer Macht, Intrige, trügerischem Idyll und Unverstanden-Sein.

Walter Kiesbauer verzichtet bewusst auf einen biographisch-chronologischen Zugang, sondern setzt - kunstvoll verdichtet und hörbar zu Recht - auf episodenhaft verknüpfte, rein atmosphärisch konnotierte Konzeption und Klanggrundierung. Wie sehr sämtliche Beteiligten ihm dabei folgen, den Bogen seiner Impulse schonungslos aufgreifen, sich an ihren Instrumenten und mit ihren Stimmen den jeweiligen Gefühls- und Situationszuständen ausliefern, ist ansteckend, macht betroffen, bleibt durchgängig evident und spürbar. Den Kreis schließen die Ausführenden zum Epilog am Ende, der nicht nur an Kaspar Hausers Grabstätte zurückführt, sondern zugleich mit einem abermals lateinischen Bibelvers choralartig den "Ewigkeitscharakter" des opulenten Werks untermauert.

Das ergriffene Publikum dankt den Künstlern wie dem Komponisten für diese enorme und kräftezehrende Leistung und erklatscht sich die Wiederholung des sinnbildlichen Feuerbach-Zitats: "Doch was verübt die schwarze Mitternacht, wird endlich, wenn es tagt, ans Sonnenlicht gebracht. " Man mag Eckart Böhmer, Intendant der Kaspar-Hauser-Festspiele Ansbach, durchaus zustimmen, wenn er Walter Kiesbauers "Aenigma aeterna" für eine der tiefgreifendsten Auseinandersetzungen mit dem Kaspar-Hauser-Sujet auf musikalischem Gebiet hält.

Heike Haberl