Eckersmühlen
"Dann käme ich doch weg von den Gräueltaten"

Einen Tag vor seinem Tod schreibt der 20-jährige Michael Müller seinen letzten Brief an seine Schwester in Eckersmühlen

28.10.2016 | Stand 02.12.2020, 19:07 Uhr

Foto: DK

Eckersmühlen (HK) Die Todesnachricht kam am 12. August 1916: Michael Müller, einer von drei Eckersmühlener Brüdern, wurde an der Ostfront von Granatsplittern zerfetzt und starb bei einer russischen Offensive im Schützengraben. Einen Tag vor seinem Tod schrieb er noch an seine Schwester.

Die Truppen des russischen Generals Brussilow waren in erheblichem Maße aufgestockt worden, sodass am 1. August 1916 die zweite große Offensive begann. Sie richtete sich gegen die k.u.k.-Frontlinie von Brzezony bis zu den Karpaten. Doch alle russischen Durchbruchversuche bleiben ohne nennenswerten Erfolg. Michael Müller, dessen Einheit am Stochod-Fluss in der heutigen Nord-West-Ukraine war, berichtet seiner Schwester von den Ereignissen und dem Schicksal von Kameraden. Der Brief spiegelt sein Entsetzen über das bisher Erlebte sowie seine Friedenssehnsucht wider.

"Schützengraben, den 7. August 1916

Liebe Schwester!

Deinen werten Brief vom 2. August habe ich erhalten.

Was mich sehr freut, daß Du mir immer gleich Antwort schreibst. Ich habe schon ihm am 1. August eine Karte geschrieben, daß mein lieber Kamerad Leonhard Karg durch eine Granate gefallen ist. Hans Vogel aus Roth sagte mir, daß er ihn selber begraben hat. Er soll einen Granatsplitter auf die Herzgegend bekommen haben und soll sofort tot gewesen sein. Was wird das für ein Jammer sein, wenn das seine Angehörigen erfahren.

Hans Vogel von Roth sagte mir, wo das Grab ist. Wie ich bei Nacht auf Essen fassen gegangen bin, hab ich schon sein Grab gesehen und auf dem Kreuz der Helm; ich konnte aber nichts lesen, weil es sehr finster war.

Liebe Schwester, er hätte jetzt wieder in Urlaub fahren dürfen, hat sich schon immer gefreut, aber es hat nicht mehr sein dürfen. Wie Du mir schreibst, ist mein Nachbar Schneider an der Schulter verwundet. Ich wollte, ich bekäme auch einen solchen Heimatschuß; dann käme ich doch einmal weg von den Gräueltaten.

Liebe Schwester, wir sind jetzt schon 19 Tage im Schützengraben, da kann man sich nicht abwaschen, nicht schlafen, kein Hemd nicht waschen. Man muß nur immer scharf beobachten daß der Ruß uns nicht überfällt.

Ich bin so weit immer noch Gott sei Dank gesund, was ich auch von Dir, Eltern und Geschwister hoffe.

Seid herzlich gegrüßt auf ein gesundes Wiedersehen euer Bruder und Sohn

M. Müller.

Viele tausend Grüße an die Hausleute nebst Heinrich und Großeltern.

Was wird das für eine Freude sein wenn der Frieden wieder kommt. Der Ruß ist von uns nur 50 Meter entfernt."

Am 8. August griff die russische 8. Armee erneut über den Stochod zwischen Starny und Kowel an, das neu angesetzte I. sibirische Korps brach kurzfristig in die deutschen Stellungen ein. Das I. Gardekorps überrannte die deutschen Stellungen und den Anschlussflügel der benachbarten österreichisch-ungarischen 41. Honved-Division. Der linke Flügel der 107. Division wurde eingedrückt, der rechte Frontteil konnte sich behaupten. In der Nacht zum 11. August wurden die Verbände der Heeresgruppe Linsingen, zu der auch Müllers Einheit gehörte, beiderseits von Zarecze abgelöst. Der deutsche General Bernhardi hatte die 75. Reserve-Division zur Verstärkung vorrücken lassen. Das russische II. Gardekorps versuchte aus dem westlichen Stochod-Brückenkopf bei Witoniez hervorzubrechen, wurde jedoch von der Gruppe Lüttwitz zurückgeschlagen. Rechts anschließend erschöpfte sich der Angriff des russischen XXIII. Korps bei Kisielin. Die weiteren Angriffe blieben erfolglos, beide Seiten gingen wieder in den Stellungskrieg über.

Nachdem die Verbände der Heeresgruppe Linsingen abgelöst und in die Auffrischungsräume ins rückwärtige Gebiet verlegt worden waren, erreichte die Familie Müller wenige Tage später die schreckliche Benachrichtigung über den Tod ihres Sohnes Michael, verfasst vom Kompaniefeldwebel:

"Im Felde, am 12.8.1916

Werter Herr Müller!

Es obliegt mir die schmerzliche Pflicht, Sie zu verständigen, daß Ihr Sohn Michael am 8.8.1916 vorm. 8:15 h für unser Vaterland gefallen ist.

Vom frühen Morgen des 8.8. an beschoß die russische Artillerie unsere vorderen Linien fest und unaufhörlich mit leichtem und schwerem Kaliber. Dabei wurde Ihr Sohn zu obengenannter Zeit durch Granatsplitter in der Brust so schwer verletzt, daß er augenblicklich starb.

Von Kameraden wurde er östl. der Straße Smolary - Zarescze etwa 3 km nördl. Smolary beerdigt. Seine letzten Nachlaßsachen gehen Ihnen als Einschreibbrief zu.

Im Namen des Königs spreche ich Ihnen zu dem schweren Verlust, der Sie betroffen, das allerherzlichste Beileid aus. Der König trauert um Ihren Sohn, wie um alle Angehörige, die bisher den Heldentod starben.

Ihr Sohn ist durch könig. Mitteln bei der Lebensvers.-Ges. Oesterr. Phönix München, Infanteriestr. 8, mit M 100 versichert worden. Wollen Sie Ihre Ansprüche unter Vorzeigung einer Sterbeurkunde geltend machen.

Freundl. Gruß

Wend, Feldw. d. Ldw."

Michael Müller, geboren am 16. August 1895 in Eckersmühlen, fiel, neun Monate nach seiner Einberufung und nach sechs Monaten ununterbrochenen Fronteinsatzes - zunächst bei Verdun und später in Wolhynien - acht Tage vor seinem 21. Geburtstag in den Kämpfen mit sibirischen Truppen am 8. August 1916.

Der deutsche Heeresbericht berichtet über diesen Tag nüchtern in einer offiziellen Depesche wie folgt: "Östlicher Kriegsschauplatz:  Front des Generalfeldmarschalls v. Hindenburg:  [ ...] Mit sehr starken Kräften nahmen die Russen ihre Angriffe am Stochod wieder auf. Zu vielen Malen sind ihre Angriffswellen südlich von Stobychwa, im Stochodbogen östlich von Kowel und nördlich von Kisielin im Artillerie-, Infanterie- und Maschinengewehrfeuer wieder zurückgeflutet. In schwerem Nahkampf mit dem an Zahl weit überlegenen Feinde blieben unsere Truppen bei Kuchary und Porskaja Wolka (nordöstlich der Bahn Kowel-Luck) Sieger. Durch entschlossenen Gegenangriff österreichisch-ungarischer Truppen sind verlorene Teile der Stellung östlich von Szelwow restlos wiedergewonnen; 350 Gefangene sind eingebracht und mehrere Maschinengewehre erbeutet. [ ...]"