Nürnberg
Dann doch lieber Oper

Stefan Otteni setzt in Nürnberg "Das Leben der Bohème" als musikalische Produktion in den Sand

22.04.2015 | Stand 02.12.2020, 21:23 Uhr

Lebens- und Leidenskünstler unter sich: Maler Marcel (Philipp Weigand, links), Schauspieler Alexandre (Martin Bruchmann, rechts) und die verhärmte Mimi (Henriette Schmidt). - Foto: Bührle

Nürnberg (DK) „Wir sind in einer musikalischen Produktion“, gibt der Schauspieler Thomas L. Dietz in der Rolle des Dichters Rudolphe dem Publikum im Schauspielhaus Nürnberg vorsichtshalber mit auf den Weg, um Verwechslungen vorzubeugen. Die leicht aufkommen könnten, denn gespielt und musiziert wird „Das Leben der Bohème“. Freilich nicht Giacomo Puccinis Oper „La Bohème“, sondern die Dramatisierung des 1851 erschienenen Romans „Szenen aus dem Leben der Bohème“ des französischen Autors Henri Murger, nach dessen Vorlage sich auch Puccini das Libretto für seine Oper schreiben ließ. Die Nürnberger Schauspielfassung ließ sich Stefan Otteni einfallen, der auch Regie in dieser Uraufführung führte, für die Bühnenmusikerin Bettina Ostermeier die mal mehr, mal weniger passendere Musik arrangierte und mit ihrem Quintett auf allerlei Instrumenten vom Klavier bis zum Schifferklavier intonierte.

Den balladesken Bilderbogen der über drei Stunden rasch wechselnden Szenenfolge siedelt Bühnenbilder Peter Scior in einer doppelstöckigen Guckkastenbühne mit acht simultanen Spielflächen an, die obendrein noch auf einer Drehbühne stehen. Was Dynamik und Tempo suggeriert, aber den Leerlauf der Inszenierung überdeutlich symbolisiert. Dabei mimen und chargieren, kalauern und singen die acht Schauspieler, was das Zeug hält, um das Leben und Sterben der Bohème im Paris des 19. Jahrhunderts vorzustellen. Ottenis Inszenierung stellt deren vier Hungerleider und Lebenskünstler aber vorwiegend an der Bühnenrampe auf, um ihre Spruchweisheiten und Sentenzen aufzusagen. So wie Colline, der Philosoph (Karen Dahmen), der von Wittgenstein bis Adorno alles zitiert, was nicht niet-und nagelfest ist; wie Alexandre, der Schauspieler (Martin Bruchmann), und Marcel, der Maler (Philipp Weigand), der mit Body- und Action-Painting alle Vorurteile über moderne Kunst zum Jubel des Publikums bestätigt, und doch nur Christoph Schlingensiefs einschlägige Kunst-Parodien auf der Bühne imitiert.

Mit der Hauptfigur Rudolphe, dem Dichter (Thomas L. Dietz), rafft sich die Inszenierung sogar zu einer Art selbstkritischer Eigenparodie auf: Am Bühnenrand sitzend, rauft er sich ob der rhetorischen Parterre-Akrobatik der Texte die Haare, wenn er nicht kopfschüttelnd beiseite guckt und „Oh Gott, wie peinlich!“ murmelt. Bildungsbeflissen legt ihm die Regie auch unverständliche Anspielungen auf Oskar Kokoschkas früh-expressionistischen Einakter „Mörder, Hoffnung der Frauen“ in den Mund, vergisst aber – wenn schon, denn schon – einen wie auch immer verschlüsselten Seitenhieb auf die filmische Bohème-Adaption (1992) des finnischen Filmers Aki Kaurismäki.

Als Mimi spielt Henriette Schmidt gleichsam die verhärmte und verhungernde „Wasserleiche vom Dienst“, während Frank Damerius den Wirt und den Vermieter, den Apotheker, den Arzt und den Kunsthändler unnachahmlich komisch hinschnoddert.

Bettina Ostermeiers Bühnenmusik lehnt sich glücklicherweise so gut wie gar nicht an Puccini an, wenn man von der als Running Gag immer wieder eingesungenen „Wie-eiskalt-ist-dies-Händchen“-Arie der Mimi absieht. Musikalischer Lichtblick sind die Chansons der Musetta, die Elke Wollmann als versierte Diseuse ironisch „übersingt“. Ansonsten mäandert die musikalische Untermalung zwischen Musical, Revue und Operette, Sing-Spiel und Poetry-Slam, holpert sich durch eigene Songs oder gibt sich mit David Bowie, Blixa Bargeld und Peter Licht „charmant und sexy, witzig und heiter“. Mit einer Kollekte mit dem Klingenbeutel durch die Zuschauerreihen zur Finanzierung des Künstlerfests rafft sich die langatmige Inszenierung zum Schluss hin zu einigen bunten und musikalisch schmissig-farbigen Szenen auf, die freilich die epische Aneinanderreihung von (Nach)Erzählungen und Anekdoten auch nicht mehr retten können. Dennoch heftiger Beifall.

Weitere Vorstellungen am 25. und 28. April sowie am 3., 6., 7., 14. Mai. Kartentelefon (01 80) 52 31 60.