Bundes-Notbremse
Bundestag beschließt bundesweite Notbremse - Bayern bleibt trotzdem bei früherem Distanzunterricht

21.04.2021 | Stand 30.04.2021, 3:33 Uhr
  −Foto: Fabian Sommer/dpa

Seit Wochen rollt die dritte Corona-Welle mit tödlicher Kraft durch Deutschland. Neue Regelungen sollen sie bremsen. Während es im Parlament ums große Ganze geht, kommt es draußen zu Rangeleien. In Bayern läuft einiges anders als im Rest der Republik, zumal in Corona-Zeiten. Während in Berlin die Bundes-Notbremse beschlossen wird, macht München klar: In den Schulen bleibt es beim bisherigen Kurs. Und damit beim Distanzunterricht ab einem Inzidenzwert von 100.

Berlin / München - Mit der Corona-Notbremse rücken Ausgangsbeschränkungen ab 22 Uhr und der Stopp von Präsenzunterricht in weiten Teilen Deutschlands näher. Der Bundestag beschloss am Mittwoch in Berlin entsprechende Änderungen des Infektionsschutzgesetzes. Die Abgeordneten lieferten sich einen leidenschaftlichen Schlagabtausch über die neuen Vorschriften. Nach der Befassung des Bundesrats und der Unterzeichnung durch den Bundespräsidenten könnten die Regeln frühestens am Samstag greifen. Nahe des Parlaments lieferten sich Gegner von Corona-Maßnahmen heftige Rangeleien mit der Polizei. Die Behörden hatten den Aufzug wegen Missachtung der Regeln zum Infektionsschutz zuvor untersagt.

Im Plenum votierten in namentlicher Abstimmung 342 Abgeordnete für das Gesetz. Es gab 250 Nein-Stimmen und 64 Enthaltungen. AfD, FDP und Linke hatten ihre Ablehnung, die Grünen ihre Enthaltung angekündigt. In Kreisen und Städten mit hohen Infektionszahlen dürften die Menschen infolge des Gesetzes ab 22 Uhr die eigene Wohnung oder das eigene Grundstück in der Regel nicht mehr verlassen. Spaziergänge und Joggen alleine bleiben aber bis Mitternacht erlaubt. Gezogen werden soll die Notbremse, wenn in einem Landkreis oder einer Stadt die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner binnen sieben Tagen an drei Tagen hintereinander über 100 liegt.

Viele Schülerinnen und Schüler müssen sich vorerst wieder auf Homeschooling einstellen: Präsenzunterricht an Schulen soll ab einer Inzidenz von 165 gestoppt werden. Ausnahmen für Abschlussklassen bleiben möglich.

Bayern wählt mal wieder den vorsichtigeren Weg

Die Schülerinnen und Schüler im Freistaat sollen wie bisher im Regelfall bei einer Inzidenz von 100 in den Distanzunterricht wechseln - und nicht erst, wie in der Corona-Notbremse vorgesehen, bei einem Wert von 165. "Warum der Bund die Inzidenzgrenze für Distanzunterricht ausgerechnet bei 165 haben will, erschließt sich mir nicht", sagte Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) auf dpa-Anfrage.

"Ich halte die im Bundesgesetz für die Schulen vorgesehenen Maßnahmen für nicht zu Ende gedacht", betonte der Minister. "Wir in Bayern setzen höhere Standards beim Infektionsschutz als der Bund - wir haben Maskenpflicht, Testpflicht und vieles mehr." Zwar sei mehr Präsenzunterricht wichtiger denn je, doch biete die aktuelle Lage keinen Raum für weitere Schulöffnungen. An den Schulen in Bayern gälten daher die bisherigen Regelungen vorerst weiter, so Piazolo.

Danach gibt es mit Ausnahme der vierten und elften Jahrgangsstufe sowie der Abschlussklassen ab einem Inzidenzwert von 100 in der Regel Distanzunterricht. Per Bundesgesetz soll Distanzunterricht im Rahmen der sogenannten Corona-Notbremse hingegen erst ab einem Wert von 165 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner binnen einer Woche verpflichtend werden.

Als Begründung für die strengeren Regeln im Freistaat verwies Staatskanzleichef Florian Herrmann (CSU) gegenüber dem "Münchner Merkur" auf die hohen Inzidenzzahlen bei Kindern und Jugendlichen. Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) hatte am Dienstag betont, dass die 15- bis 19-Jährigen inzwischen die am stärksten von Corona-Neuinfektionen betroffene Altersgruppe in Bayern seien. Die Zahl der Ansteckungen pro 100 000 Einwohner in dieser Altersgruppe liege bei mehr als 320, bei den 10- bis 14-Jährigen noch immer bei gut 240. Insgesamt liegt der Durchschnitt in Bayern derzeit bei 185.

Treffen mit Freunden und Familie

Ab der 100er-Schwelle darf sich höchstens ein Haushalt mit einer weiteren Person treffen, wobei Kinder bis 14 Jahre ausgenommen sind. Läden dürfen Kunden nur noch empfangen, wenn diese einen negativen Corona-Test vorlegen und einen Termin gebucht haben. Ab einer Inzidenz von 150 soll nur noch das Abholen bestellter Waren möglich sein.

Testangebotspflicht in Unternehmen

Zugleich stellte Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) per Rechtsverordnung die Weichen dafür, dass Unternehmen den nicht im Homeoffice befindlichen Mitarbeitern zwei Corona-Tests pro Woche bereitstellen müssen.

Kritik an der Bundes-Notbremse

FDP-Chef Christian Lindner kündigte Verfassungsbeschwerde gegen die Bundes-Notbremse an. "Wir sehen die Regeln zur Ausgangssperre verfassungsrechtlich unverändert als hoch problematisch an", sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). "Wir wollen deshalb die Rechtmäßigkeit in Karlsruhe geprüft sehen." Bereits im Plenum hatten vor allem die FDP, die AfD und die Linke erhebliche Grundrechtseinschränkungen kritisiert.

AfD-Fraktionschef Alexander Gauland sprach von einem "Angriff auf die Freiheitsrechte, den Föderalismus wie den gesunden Menschenverstand". Linke-Fraktionschefin Amira Mohamed Ali sagte, die Bundesregierung versuche, Grundrechte "praktisch im Vorbeigehen" einzuschränken und ihre Befugnisse auszuweiten. Die Grünen hingegen monierten, dass die Schritte nicht konsequent genug seien, um das Virus zurückzudrängen.

Die Koalition warb eindringlich für die Regeln. Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) sagte: "Was wir brauchen, ist Klarheit und Konsequenz." Es gehe nicht um einen Dauerzustand, sondern darum, die Pandemie zu überwinden. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagte: "Die Lage ist ernst, sehr ernst." 4987 Menschen lagen am Mittwoch mit Covid-19 auf Intensivstationen. "Tendenz weiter steigend, bei sinkendem Alter der Patienten", sagte Spahn. Zwei Drittel aller Ausbrüche fänden derzeit im privaten Bereich statt. Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus (CDU) betonte: "Dieses Gesetz ist ein Gesetz fürs Leben." Er hätte ein härteres Gesetz bevorzugt, aber nun sei es wichtig, den Kompromiss zu verabschieden.

Die neuen Regelungen könnten frühestens ab diesem Samstag greifen. Bevor das geschehen kann, müssen sie am Donnerstag den Bundesrat passieren. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sagte RTL/ntv: "Der Bundesrat wird sich nicht verweigern." Zudem muss Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Gesetz unterzeichnen. Es ist offen, ob das am Donnerstag geschehen wird, weil das Gesetz - wie jedes andere auch - im Präsidialamt erst geprüft wird. Die Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt könnte möglicherweise noch am selben Tag wie die Unterzeichnung erfolgen.

Es könnte also sehr schnell gehen: Als der Bundesrat im März 2020 das Gesetzespaket zu den Corona-Hilfen absegnete, unterzeichnete Steinmeier es zwei Stunden später. Noch am Abend desselben Tages wurde die Regelung im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Damit die Notbremse greift, muss die Sieben-Tage-Inzidenz an drei Tagen über 100 liegen. Diese drei Tage sollen nach dem jüngsten Entwurf nun auch schon die drei Tage unmittelbar vor Inkrafttreten des Gesetzes sein.

Nahe dem Reichstagsgebäude demonstrierten mehr als 8000 Gegner der Corona-Maßnahmen. Wegen massiver Verstöße gegen die Hygiene-Regeln untersagte die Polizei die Demonstration. Beamte versuchten, Teilnehmer zu zerstreuen. Demonstranten griffen Polizisten an. Dutzende Menschen wurden festgenommen. Etwa 2200 Polizisten aus mehreren Bundesländern waren im Einsatz.

Die Corona-Notbremse ist bis zum 30. Juni befristet. Bis dahin soll die Pandemie durch Impfungen nach Erwartungen der Regierung weitgehend zurückgedrängt sein. Die Zahl der Geimpften wachse zügig, sagte Spahn. "Anfang Mai wird es jeder Vierte sein, in wenigen Wochen jeder Dritte", sagte Spahn. Aber: "Impfen und Testen alleine reicht nicht, um die dritte Welle zu brechen."

dpa