Ingolstadt
Berg, Mensch und Tod

Gustav Rueb inszeniert Elfriede Jelineks verstörendes Stück "In den Alpen" am Stadttheater Ingolstadt

30.03.2014 | Stand 02.12.2020, 22:53 Uhr

Ingolstadt (DK) Vorne liegen die Leichensäcke und hinten tobt die Pistengaudi. Aber die da rhythmisch zum Disco-Lärm zucken, „A Gaudi muaß sei“ kreischen, saufen und kotzen, sind Zombies, tragen Skianzüge zu blutenden Wunden im kalkweißen Gesicht. Gerade noch sind sie wie Traumwandler mit verwunderten Blicken durch diesen Unort getappt, der anmutet wie eine Mischung aus Warteraum und verrußter Eiskathedrale. Sie hatten ein Gebet auf den Lippen oder vielleicht einen Fluch. Zu hören war nur Gewisper und alles lief im Zeitlupentempo. Kurz nach neun – die Uhr im weißen Schalterhäuschen zeigt es an – ist für sie die Zeit stehen geblieben. Kurz nach neun begann das Inferno.

Am 11. November 2000 starben bei einem Brand in einem im Tunnel befindlichen Zug der Gletscherbahn Kaprun 155 Menschen. Es war die größte Katastrophe, die sich in Österreich seit dem Zweiten Weltkrieg ereignet hat. Elfriede Jelinek hat das verheerende Bergbahnunglück in ihrem Dramolett „In den Alpen“ verarbeitet. Gustav Rueb hat das Stück nun im Großen Haus des Stadttheaters Ingolstadt in Szene gesetzt. Und obwohl das Stück verstört – in seiner bloßen Textmasse, seiner Katastrophenthematik und seinem Zynismus –und das Zuschauen und Zuhören anstrengt, gab es am samstäglichen Premierenabend nach gut zwei Stunden heftigen Applaus und vereinzelte Bravorufe.

Elfriede Jelinek beleuchtet in ihrem nicht unproblematischen Stück das komplexe Verhältnis von Technik und Natur, Massentourismus und Sportwahn, Freizeitindustrie und Profitmaximierung, Bergromantikkitsch und Antisemitismus. In der Talstation der Seilbahn lässt sie Figuren aus unterschiedlichen Zeiten aufeinander treffen – und es entspinnt sich eine vielstimmige Suada über das richtige oder falsche Leben, über Schuld und Verantwortung. Lebende und Tote, Einheimische und Fremde, Opfer und Helfer, zuletzt sogar die Dichterin selbst kommen zu Wort, klagen, trauern, wünschen, verwünschen – oder machen einfach weiter wie bisher.

Auf sechs Figuren hat Jelinek ihre vielschichtig collagierten Wortflächen verteilt, Regisseur Rueb fügt noch einen Chor hinzu, der heimelige Holladio-Jodler schmettern und Untersuchungsergebnisse psalmodieren kann, der als Kommentator und Mahner auftritt, als Jedermann und moralische Instanz (Musik und musikalische Einstudierung: Matthias Flake). Den sechs Schauspielern werden Höchstleistungen abgefordert. Allen voran Béla Milan Uhrlau in der Rolle des Kindes, das mit seinen Eltern verunglückt und über sein allzu kurzes Leben reflektiert. Uhrlau spielt sich durch alle Stadien der Verzweiflung: Er schmollt und verdrängt, er begehrt auf und triumphiert, er fiebert und strauchelt. Was für ein Kraftakt! Und was für ein berührendes Spiel. Denn Jelineks Texte sind im Grunde Textströme, aufgeladen mit Assoziationen, voller Analogien, versetzt mit Wortspielen und Wiederholungen, bisweilen sogar komisch, auch wenn einem hier das Lachen im Halse stecken bleibt. Aber Uhrlau zeigt sich als souveräner Spielemacher und sein(en) Kind/Mann mit immer wieder überraschenden Facetten. Er bildet so das eigentliche Zentrum des Stücks.

Doch auch die anderen Schauspieler überzeugen durch spannende Interpretationen, spielen mit Klischees, reizen die Extreme aus: Victoria Voss als Ältere Frau/Jelinek, Ralf Lichtenberg als Mann/Celan, Patricia Coridun als junge Frau, Anjo Czernich im Gemütlichkeits-Trachtenjanker als jovialer Helfer und Matthias Zajgier als Bergrettungsmann/Conferencier.

Regisseur Rueb setzt auf eindringliche Bilder (Bühne: Daniel Roskamp, Kostüme: Nicole Zielke): Ist es zunächst die betäubende Stille an einem transformatorischen Ort, zerbirst bald alles in grellem, lauten Pistenspektakel, hier die (musikalische) Heidi-Welt, da der zerstörerische Alpinismus, dort die Faschismuskritik. Rueb bringt den Jelinek-Text zum Klingen, macht den Zynismus, das Pathos, die Überhöhung, die Lakonie, die Kampfansage durchhörbar, bereitet den Worten eine Bühne, setzt sie in eine klare Bildsprache um, aber thematisiert auch das Theatrale, die Bearbeitung und Umsetzung von Wirklichkeit. Das macht er schrill und still, in einem präzise komponierten Tempo und prägnanten Bewegungschoreografien.

Mit seiner Inszenierung lässt er das Publikum ein breites Spektrum an Emotionen durchleben – von Aversion bis zur Erschütterung. Unberührt lässt dieser Parforceritt „in den Alpen“ niemanden. Und das ist nicht das Schlechteste, was man von einem Theaterabend sagen kann.