Barfuß durch Rom

18.08.2016 | Stand 02.12.2020, 19:24 Uhr

Natürlich haben die Schuhe des schnellsten Läufers der Welt auch einen entsprechend futuristischen Namen. "Usain Bolt Evospeed Electric" heißen die gold-schwarzen Treter, mit denen der Jamaikaner bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro am liebsten dreimal Gold gewinnen würde.

Und selbstverständlich gibt es die auch für Jedermann. Kostenpunkt: stolze 130 Euro. Aber schließlich arbeitet Ausrüster Puma jahrelang dafür, um dem schnellsten Mann der Welt den besten Schuh zu präsentieren.

1960 in Rom hätte Puma weit weniger Spaß gehabt. Abebe Bikila gewinnt bei den Olympischen Spielen im Marathonlauf. Der Äthiopier siegt in der Weltbestzeit von 2:15:16 Stunden. Doch etwas anderes macht seine Leistung an diesem 12. September so besonders: Bikila läuft den Marathon: barfuß. 42,195 Kilometer lang. Warum? Seine eigenen Schuhe, die Bikila mitgebracht hat, sind durchgelaufen. In Rom findet er keinen guten Ersatz. Kurzentschlossen startet er mit nackten Füßen - weil er sein ganzes Leben barfuß gelaufen ist.

Denn Bikila ist bettelarm. Früher arbeitete der Äthiopier als Schafhirte, mit 20 wird er Mitglied der Leibgarde des äthiopischen Kaisers Haile Selassie. Der Finne Onni Niskanen, der als Major die kaiserliche Leibgarde trainiert, erhält den Auftrag, eine Olympiamannschaft zu formen - und schickt Bikila schließlich nach Rom.

In der Ewigen Stadt schreibt der 28-Jährige Geschichte. Der Start am Campidoglio erfolgt am frühen Abend, um den Athleten die Hitze zu ersparen. Als die Dunkelheit über der Stadt hereinbricht, säumen Tausende Soldaten mit Fackeln den Weg. Auf den letzten 500 Metern vor dem Ziel kann sich Bikila auf der von Zypressen gesäumten Via Appia Antica von Rhadi Ben Abdesselam aus Marokko absetzen und läuft schließlich als erster der 68 Starter durch den erhellten Konstantinsbogen, mit 26 Sekunden Vorsprung. In Äthiopien wird Bikila über Nacht zum Helden. Denn noch nie hatte ein schwarzafrikanischer Athlet eine Goldmedaille für ein afrikanisches Land gewonnen.

Vier Jahre später kann der Äthiopier seinen Triumph bei den Olympischen Spielen wiederholen - diesmal mit Schuhen. Doch in Tokio ist es vor allem Bikilas Leichtigkeit, mit der er das Publikum beeindruckt: Er siegt nach 2:12:11 Stunden, erneut Weltbestzeit. Auf den Zweitplatzierten Benjamin Heatley aus Großbritannien hat er mehr als vier Minuten Vorsprung. Sechs Wochen vor dem Rennen hatte sich Bikila einer Blinddarm-OP unterziehen müssen. Unmittelbar nach dem Rennen macht er in aller Seelenruhe Lockerungsübungen und erzählt den Reportern, dass er locker noch zwei Minuten schneller hätte laufen können.

Der Äthiopier war damit der erste Läufer, der einen Olympiatitel im Marathon verteidigte. Danach ließ das Glück Bikila jedoch im Stich: 1968 erlitt er bei den Olympischen Spielen in Mexiko nach 15 Kilometern einen Ermüdungsbruch und musste aufgeben. Ein Jahr später wurde er durch einen Autounfall querschnittsgelähmt. Mit 41 Jahren starb Bikila schließlich an den Spätfolgen des Unfalls durch eine Gehirnblutung. Zu seiner Beerdigung kamen Zehntausende Menschen - darunter Kaiser Haile Selassie.

Dass eines Tages wieder ein Sieger ohne Schuhe einen olympischen Marathon gewinnen wird wie Abebe Bikila, ist jedoch unwahrscheinlich. Schon deshalb, weil es eine Katastrophe für die Sportartikelindustrie wäre.