Aus Ingolstadt zur Spitzenkarriere

Stefan Klingele ist Chefdirigent der Musikalischen Komödie Leipzig - Gesellenjahre bei der Neuburger Kammeroper

27.07.2020 | Stand 02.12.2020, 10:53 Uhr
Stefan Klingele gastiert regelmäßig als Dirigent an zahlreichen internationalen Bühne, wichtige Impulse bekam er in Ingolstadt. −Foto: privat

Leipzig/Ingolstadt - "Als Künstler musst du eine Zeit lang raus aus der weiß-blauen Kuschelecke.

 

" Stefan Klingele weiß, warum er das sagt. Der 52-Jährige hat angesichts seiner Karriere und tollen Projekte aber keinen Grund zur Verbitterung. Er meint das als Empfehlung zum Erfahrungsgewinn außerhalb der verführerisch gemütlichen Kulturbedingungen in Bayern. Vom Studium an der Würzburger Musikhochschule gelang Klingele gleich der Sprung an das Nationaltheater Mannheim und von dort zum Kapellmeister an das Münchner Gärtnerplatztheater. Über mangelnden Erfolg in der Heimat kann sich der gebürtige Ingolstädter also nicht beklagen.

Dort erblickte er am 30. August 1967 im Krankenhaus am Nordbahnhof das Licht der Welt, obwohl die Eltern zum Zeitpunkt der Geburt bereits in München wohnten. Auch seine beiden Brüder wurden auf Wunsch der Mutter in Ingolstadt geboren. Stefan Klingele erinnert sich an sommerliche Wochenenden im Garten bei den Großeltern in Ingolstadt. Die Reinigung Klingele ist bei Älteren noch in guter Erinnerung. Aber noch wichtiger sind für Stefan Klingele heute die im Raum Ingolstadt empfangenen musikalischen Impulse.

Für zwei Experten-Eigenschaften, die in der Klassik-Szene eigentlich als unvereinbar gelten, genießt er heute einen ausgezeichneten Ruf: Der Chefdirigent der Musikalischen Komödie Leipzig, eines der wenigen Repertoiretheater für Operette und Musical in Mitteleuropa, machte seine Karriere vor allem mit zeitgenössischen Musiktheater-Werken, denen Kollegen wegen der erforderlichen intensiven Vorbereitungs- und Probenarbeit ausweichen. Luigi Nonos "Intolleranza 1960" wurde unter Klingeles musikalischer Leitung am Opernhaus Hannover als Musiktheater-Inszenierung des Jahres 2010 mit dem Theaterpreis "Der Faust" ausgezeichnet. Seine Aufführung von "Feuersnot", Richard Strauss' satirischer Opern-Abrechnung mit seiner Geburtsstadt München, war eine Sensation der Dresdner Musikfestspiele 2014. Im Februar 2019 dirigierte Klingele am Tiroler Landestheater Innsbruck die zweite Produktion der Molnar-Oper "Liliom" von Johanna Doderer und entlockte dem bei der Uraufführung am Gärtnerplatz zwiespältig aufgenommenen Opus weitaus intensivere Klänge, als man dem Stück bis dahin zugetraut hatte.

Delikatesse, Schwung und die vertrauensvoll lange Leine zwischen Sängern und Musikern, also die unverzichtbaren Kardinaltugenden für die leichte Muse, bewies Klingele in den späten Neunzigern bei der "Csárdasfürstin"-Inszenierung von Franz Winter, mit der am Gärtnerplatz ein neuer und leichtgewichtigerer Operetten-Geist einzog. Es hatte nicht mehr sein sollen, dass neben der legendären Sari Barabas auch Hermann Prey mitwirkte. Wenige Tage nach einer musikalischen Verständigungsprobe mit Klingele starb der Bariton. So weit zurück reichen essenzielle Erfahrungen, die Stefan Klingele auch für die beachtliche CD-Reihe der Musikalischen Komödie Leipzig mit Nico Dostals "Prinzessin Nofretete", vor allem aber den Weltersteinspielungen von Erich Wolfgang Korngolds "Lied der Liebe" und "Rosen aus Florida" einbringen konnte.

"Erst an anderen Orten lernt man den riesigen musikalischen Reichtum, den Bayern neben Wagner, Strauss und Orff bietet, zu schätzen", resümiert Klingele, der auch während seiner Jahre am Theater Bremen und Gastauftritten an den Opernhäusern in Stockholm, Göteborg und Antwerpen den leicht singenden, etwas kehligen Heimatdialekt nie ganz abgelegt hat und bewusst kultiviert.

 

Während seine Musiker-Kollegen und Kolleginnen ihre Repertoire-Kenntnisse bei Konzerten und Opernvorstellungen sammelten, hatte Klingele schon mit knapp über 20 Jahren einen originellen Arbeitsplatz. "Bei der Neuburger Kammeroper wurde ich mit allen für meine Zukunft wichtigen Aufgaben beauftragt. Meine Eltern spielten im Akademischen Orchesterverein München, der damals dort das Orchester stellte, und mein Bruder wurde später Konzertmeister. "

Vater Klingele und der junge Stefan spielten Cello, die Mutter Geige und Bratsche. Für die schon damals immer in der zweiten Juli-Hälfte angesetzten Proben und Aufführungen logierte die ganze Familie bei den Großeltern in Ingolstadt. "Während meines Studiums in Würzburg konnte ich bei Annette und Horst Vladar an der Neuburger Kammeroper alles lernen, was ich wissen musste. "

Während bei neuen Kompositionen jeder Ton präzis notiert ist, gibt es bei der Operette, wenn sie gut gemacht werden soll, viel ergänzenden Aktionsbedarf - genau wie bei den Opernentdeckungen der Neuburger Kammeroper, die oft seit über 150 Jahren nicht mehr gespielt wurden. "Dort lernte ich als junger Dirigent, wie man das Aufführungsmaterial einrichtet, die Bearbeitung von Rezitativen oder Dialogen mit der Regie bis zur Koordination der Bogenführung im Orchester und eine effiziente Gestaltung knapper Probenzeiten. Das alles waren unschätzbare Erfahrungen für den Wechsel an größere Theater. " Heute kommt es immer wieder zu Begegnungen mit Kollegen aus früheren bayerischen Projekten - zum Beispiel in Leipzig beim Musical "Doktor Schiwago" mit Jan Ammann, der mit Klingele die Demobänder von Franz Hummels "Ludwig II. - Sehnsucht nach dem Paradies" für Füssen aufgenommen hatte und dort drei Jahre lang in der Titelpartie Erfolge feierte. Andock-Punkte zu Bayern finden sich also in vielen Musiktheatern Europas.

Zwischen den Projekten tankt Stefan Klingele Energie bei seiner Familie in München, oft allerdings mit unvorhersehbaren Zwischenfällen: Im Advent rettete er am Aalto-Theater Essen in letzter Sekunde für einen erkrankten Kollegen die Premiere von "Das Land des Lächelns". Im Frühjahr 2020 ging es mit Bernsteins "Candide" an die Königliche Oper Stockholm und an der Musikalischen Komödie musste die Wiederentdeckung von Franz Lehárs Operette "Die Juxheirat" wegen Covid-19 auf einen späteren Zeitpunkt verlegt werden.

Auch die Musikalische Komödie steht mit Premierenstau vor einer ungewissen Spielzeit 2020/21.

DK