Eichstätt
Aus Harry Potters Besenkammer

Bürgernetzverein Altmühltal wurde vor 20 Jahren gegründet "Internet" war damals noch ein Fremdwort

20.05.2016 | Stand 02.12.2020, 19:47 Uhr

Blick ins Fotoalbum: Beim Tag der offenen Tür 2002 hatte der Bürgernetzverein seine tragbaren Computer im Garten des Vereinsheims in der Römerstraße aufgestellt. ‹ŒArch - foto: Nissen

Eichstätt (DK) Wie doch die Zeit vergeht! Vor genau 20 Jahren, am 22. Mai, wurde in Eichstätt der Bürgernetzverein Altmühltal gegründet. Ziel des "Altmuehlnet": Alle Bürger sollten an einer seltsamen technischen Neuheit namens "Internet" teilhaben. Mission erfüllt. Und doch gibt's genug zu tun.

Internet, das war vor gerade mal 20 Jahren eine Sache für Computer-Freaks. Es gab die ersten mühsam programmierten Homepages, auf denen Eichstätter Computerbastler mit Vorliebe nur "Hallo, Welt!" schrieben. Da ging es noch eher ums Ausprobieren, ums Prinzip. Im Dorf Hofstetten, im Gasthaus Buchberger, trafen sich regelmäßig vier Bastler zum Fachsimpeln und nannten sich mutig "Internetstammtisch": Martin Pauleser, Rainer Nissen, Michael Falk und Josef Feil. In München legte derweil ausgerechnet das Landwirtschaftsministerium ein millionenschweres Förderprogramm auf, um Bayerns Bevölkerung mithilfe von vielen Vereinen computertechnisch in die Zukunft zu katapultieren.

Und siehe da: Beim Stammtisch meldete sich völlig überraschend Dr. Wolfgang Slaby, der Leiter des Rechenzentrums der Katholischen Universität Eichstätt (KU) und machte ein Angebot. Wie jede bayerische Uni habe auch die KU eine Auffahrt auf die Datenautobahn - mit zwei Megabit. Pauleser: "Wenn man heute nur zwei Megabit bekäme, dann würde man gegen die Telekom prozessieren." Doch damals war das sensationell viel. Und Slaby sagte: Wenn man einen Verein, einen Bürgernetzverein, gründe, könnten auch normale Bürger diese Auffahrt nutzen.

Eine Formalie scheinbar, und die Leute vom Stammtisch machten mit. Zu einer Vereinsgründung brauchten sie mindestens sieben Unterschriften von Gründungsmitgliedern, und Martin Pauleser erwartete zur Gründungsversammlung im Foyer des Alten Stadttheaters im besten Fall zehn Teilnehmer. Alle waren fassungslos, als am 22. Mai 1996 exakt 65 Leute kamen und sich eintrugen. Viel mehr, als kurz zuvor bei der Vereinsgründung von "Bingo" in Ingolstadt gekommen waren. Martin Pauleser wurde erster Vorsitzender, meint aber, es hätte damals jeder von den Initiatoren werden können, Klaus Hofmeier zum Beispiel. Und Wolfgang Slaby stellte dem Verein einen winzigen Raum in seinem Rechenzentrum zur Verfügung - gerade mit genug Platz, um die erforderliche Technik und drei Stühle reinzustellen. "Eine Besenkammer", erinnert sich Pauleser an den Raum im Keller der ehemaligen fürstbischöflichen Orangerie. "Unter der Treppe, wie bei Harry Potter", sagt Rainer Nissen, und die Vorstellung ist ziemlich gut, dass sich da aus dieser winzigen Kammer eine fremde Zauberwelt eröffnete. Ein großes Glück für den Verein: Näher konnte man gar nicht an die alles entscheidende Zentralleitung kommen, ohne eine sündteure Standleitung zu brauchen. Und so war sensationellerweise für sämtliche Altmuehlnet-Mitglieder der Internet-Zugang zum Telefon-Ortstarif möglich. Der Landkreis Eichstätt und verschiedene Gemeinden halfen finanziell nach Kräften, damit sich der Verein die nötigste technische Ausstattung anschaffen konnte, die Lentinger Firma Kessel spendierte den ersten Server. "Die waren damals richtig teuer", erinnert sich Pauleser. 80 000 Mark habe der Verein zusammenbringen müssen - "innerhalb von 14 Tagen haben wir das Geld gehabt." Alle waren euphorisch.

Die Vorstandsmitglieder zogen durch den Landkreis, hielten Präsentationen in Wirtshäusern, wo sie das einzige Telefon (meist in der Küche) mit einer langen Kabeltrommel anzapften und dann vor 30 bis 50 Leuten die Welt des Internet erklärten, etwa am Beispiel der Audi-Homepage, die es schon gab. "Das war wie in den Anfangszeiten vom Kino", erinnert sich Pauleser.

Der Rest ist, wie man so sagt, Legende. Der Verein wuchs explosionsartig, im Jahr 2000 hatte er mit 2480 Mitgliedern aus dem gesamten Landkreis Eichstätt seinen Höchststand. Da war man längst aus der Uni ausgezogen und in das eigene Vereinshaus an der Römerstraße 47 in Eichstätt eingezogen. Das Altmuehlnet hatte in Sachen moderner Technik immer die Nase besonders weit vorne: 1999 gab es dafür einen Preis des Deutschen Bundestags, in Berlin verliehen von Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth. Und im Jahr 2000 gab es schon "MyAltmuehlnet", wo lange, lange vor Facebook Bilder und Filme ins Netz gestellt werden konnten. Rainer Nissen sagt: "Videos hat vor uns überhaupt noch keiner live gestreamt, da waren wir in Bayern bestimmt die Ersten."

Freilich: Die meisten Mitglieder waren beim Verein, weil sie den unkomplizierten, preiswerten Zugang ins Internet suchten, der Verein musste mühsam die Balance zwischen kommerziellem und ehrenamtlichem Bereich finden, die Technik wurde schließlich ausgegliedert. Da knirschte es im Verein.

In ganz Bayern wurden vor 20 Jahren Bürgernetzvereine gegründet. Etwa die Hälfte davon gibt es heute nicht mehr, wo ein beträchtlicher Teil der ehemaligen Aufgaben von weltweiten Konzernen angeboten wird und Zugang zum Internet so selbstverständlich ist wie Trinkwasser aus der Leitung. Die Eichstätter aber haben es geschafft, sich immer wieder neu zu erfinden und sich attraktiv zu halten. 1000 Mitglieder hat der Verein heute, und er hält diese Marke seit fünf Jahren stabil. "Wir werden immer mehr ein ganz normaler Verein", sagt Stefan Hanauska, neben Andreas Baumeister aktuell Zweiter Vorsitzender. Dazu gehört: Der Verein betreibt aktive Seniorenarbeit und noch aktivere Jugendarbeit. Nicht nur auf Landkreis-, sondern auch auf Oberbayern-Ebene hat das Altmuehlnet Preise für seine Jugendangebote gewonnen. Da wurden Spielfilme gedreht oder Jugendliche truppweise journalistisch geschult. Wie eh und je gehört aber auch die computertechnische "Nachbarschaftshilfe" zum Markenkern des Bürgernetzvereins. Es gibt jeden Donnerstag von 18 bis 20 Uhr im Vereinsheim eine "Sprechstunde" für Computerprobleme. Eine Vielzahl von Kursen - meist zusammen mit der Volkshochschule - rundet das Konzept ab.

Das kostet alles Geld, und der Verein stellte erst in diesem Jahr die Mitglieder vor die schwierige Frage, wie es weitergehen sollte. Das Ergebnis: Die Mitglieder wollen lieber mehr zahlen, als auf ein Vereinsheim mit Geschäftsstelle zu verzichten. Die Bindung ans Altmuehlnet ist so groß wie eh und je.

"Wir hatten Träume, eine Vision, und wir haben daran geglaubt, dass eines Tages die ganze Welt kommuniziert, und dass das alles im Internet funktioniert", sagt Pauleser. "Und wir haben das in die Bevölkerung im Landkreis Eichstätt reingebracht. Wir haben die Leute dafür begeistert."

Heute allerdings ist sich Martin Pauleser gar nicht mehr so sicher, ob die unglaublich rasante technische Entwicklung ausschließlich toll war. "Im Gegensatz zu früher mache ich mir über Internet, über die Zukunft Sorgen." Die Themen Datensicherheit und Internetabzocke und die Möglichkeit zur lückenlosen Überwachung treiben ihn um. Und dann komme da auch noch die verbreitete "Handy-Sucht" hinzu. "Das Internet ist in Form des Smartphones eine Plage geworden", sagt Pauleser, und hat dabei selbstverständlich sein eigenes Smartphone in der Tasche. "Neben dem ganzen Nutzen, der entsteht", sagt er fast entschuldigend.

Stefan Hanauska sieht denn auch schon seit Langem die Medienpädagogik als wichtiges Element der Vereinsarbeit an. In der Ausbildung der vereinseigenen Jugendleiter spielt das inzwischen eine wichtige Rolle. Und allzu pessimistisch sollte man wohl sowieso nicht sein, dass bald jedermann der Sklave seines Smartphones ist. "Ich spüre schon eine Gegenbewegung, dass Schüler ihr Gerät gerne ausschalten. Die sagen, sie wollen ihre Ruhe."