Aus einer Aufgabe der Polizei folgt nicht deren Befugnis

Zum Leserbrief "Fortentwicklung des Rechts im Dienst des Bürgers" (DK vom 8. Juni):

18.06.2018 | Stand 02.12.2020, 16:13 Uhr

Zum Leserbrief "Fortentwicklung des Rechts im Dienst des Bürgers" (DK vom 8. Juni):

Der Ingolstädter Rechtsreferent behauptet, das neue Polizeiaufgabengesetz (PAG) sei die "Fortentwicklung des Rechts im Dienst des Bürgers." Das Gegenteil ist der Fall. Zwei der rechtsstaatlichen Kernsätze des Polizeirechts lauten: Der Schluss von der Aufgabe auf die Befugnis ist unzulässig und Eingriffe in die Grundrechte der Bürger erfordern (zumindest im Regelfall) eine konkrete Gefahr. Nach dem neuen bayerischen PAG gelten diese beiden Kernsätze in Bayern nicht mehr. Definiert wird die "drohende Gefahr" in einem neuen Absatz: "Die Polizei kann die notwendigen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr auch treffen, wenn im Einzelfall 1. das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, oder 2. Vorbereitungshandlungen für sich oder zusammen mit weiteren bestimmten Tatsachen den Schluss auf ein seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen zulassen, dass eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung entsteht (drohende Gefahr)."

Eine "konkrete Wahrscheinlichkeit" ist ein Widerspruch in sich. Wahrscheinlichkeit beschreibt die relative Häufigkeit zukünftiger Ereignisse, die von einem zufälligen Prozess bestimmt werden. Was ist daran konkret? Das gilt auch für die Verhältnismäßigkeit. Ein gefährlicher, beängstigender Spielraum. Bei "drohender Gefahr" soll die Polizei auch die Befugnisse haben für die Identitätsfeststellung, die erkennungsdienstlichen Maßnahmen, den Platzverweis, die neu in das Gesetz aufgenommenen Maßnahmen des dauerhaften Aufenthalts- und Kontaktverbots für einen Zeitraum bis zu sechs Monaten sowie die Durchsuchung. Darüber hinaus soll die drohende Gefahr für den Präventivgewahrsam genügen.

Nach dem Gesetzesvorschlag soll der Polizei damit schon bei lediglich drohender Gefahr praktisch das gesamte Befugnis-Arsenal zur Verfügung stehen. Der Verstoß dieser Regelung gegen die Grundrechte des Grundgesetzes ist offensichtlich.

Nach der bisherigen polizeilichen Dogmatik wird grundlegend zwischen abstrakter Gefahr und konkreter Gefahr differenziert. Abstrakte Gefahren genügen in der Regel nicht, um in die Grundrechte eingreifende Einzelmaßnahmen zu rechtfertigen; die neu eingeführte "drohende Gefahr" lässt sich deshalb nur als eine Form der abstrakten Gefahr einordnen. Damit verwirft der Gesetzesvorschlag den ehernen Grundsatz, dass aus der polizeilichen Aufgabe nicht schon die Befugnis für Grundrechtseingriffe folgt. Im Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit ist die konkrete Gefahr der Grund, weshalb in einer bestimmten Situation die grundrechtlich geschützte Freiheit zugunsten der Sicherheit zurücktreten muss; im Übrigen genießt die Freiheit Vorrang. Eine solche einigermaßen klar definierte Schwelle für Grundrechtseingriffe ist eine wertvolle rechtsstaatliche Errungenschaft.

Eine dreiste Irreführung ist es, dass die Gesetzesbegründung behauptet, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum BKA-Gesetz aus dem Jahr 2016 legitimiere diese Neuregelung. Die entscheidende Passage des Urteils lautet: "In Bezug auf terroristische Straftaten, die oft durch lang geplante Taten von bisher nicht straffällig gewordenen Einzelnen an nicht vorhersehbaren Orten und in ganz verschiedener Weise verübt werden, können Überwachungsmaßnahmen auch dann erlaubt werden, wenn zwar noch nicht ein seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen erkennbar ist, jedoch das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass sie solche Straftaten in überschaubarer Zukunft begehen wird." Keinesfalls kann man daraus schließen, der Polizei dürften praktisch alle Befugnisse im Vorfeld einer konkreten Gefahr zur Verfügung gestellt werden.

Hätte sich die Bayerische Staatsregierung tatsächlich mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auseinander gesetzt, anstatt wahltaktisch irrealen Sicherheitsphantasien hinterherzulaufen, so hätte man von den Änderungsvorschlägen Abstand nehmen müssen: Das Bundesverfassungsgericht hat sich in den Jahren nach 9/11 in einer ganzen Reihe von Entscheidungen als Verteidiger der Freiheitsrechte erwiesen. Übergriffigem Verhalten durch sicherheitspolitisch motivierte Eingriffsmaßnahmen hat das Bundesverfassungsgericht stets deutliche Grenzen gesetzt (wie beispielsweise in den Entscheidungen Präventive Telekommunikationsüberwachung, Rasterfahndung, Kontostammdaten, Online-Durchsuchung, Kfz-Kennzeichenerfassung, Vorratsdatenspeicherung). Es ist ausgeschlossen, dass der bayerische Gesetzgeber mit dem dargestellten Gesetz in Karlsruhe durchkommen wird, es sei denn, das Bundesverfassungsgericht würde seine Rechtsprechung fundamental ändern (wofür es keine Anhaltspunkte gibt).

Paul Schönhuber

Ingolstadt