Kassel
Aufsässige Kunst

09.06.2017 | Stand 02.12.2020, 17:58 Uhr

−Foto: Kathrin Fehr

Kassel (DK) Die documenta ist so politisch wie lange nicht mehr. Kuratoren und Künstler lassen keine Krise, kein Elend in der Welt aus. Das ist gut, wenn auch überbordend und nicht immer überzeugend. Ein Rundgang durch Kassel.

Da qualmt es aus dem Zwehrenturm, weswegen schon mehrmals die Feuerwehr alarmiert wurde. Da flüstert es aus alten Autos und unsichtbaren Lautsprechern am Straßenrand. Da entsteht aus Zehntausenden verbotenen, von den Besuchern gestifteten, Büchern eine spektakuläre Kopie des Parthenon. Da wird die Torwache, eines der Wahrzeichen von Kassel, mit Jutesäcken verhängt. Da blühen Blumen auf einer "lebenden" Pyramide in einem Park im Problembezirk Nordstadt. Und wer will, kann im Stadtmuseum mit Plastik-Maschinengewehren auf die für ihre drastischen Aktionen bekannte Künstlerin Regina José Galindo schießen. Eine Scheinhinrichtung, eine der provokantesten Peformances dieser überbordenden und changierenden documenta 14. An diesem Samstag wird sie offiziell in Kassel eröffnet.
 

Für traditionell 100 Tage wird die nordhessische Stadt zum Mekka der Kunstfreunde. Die Welt blickt auf Kassel, aber die Besucher schauen bei dieser Auflage der documenta auch auf die Welt in ihrer Zerrissenheit, sie werden durch die ganze Stadt zu schier allen Krisen und Bruchstellen geführt. Von China bis in die USA, von den entlegensten Orten Norwegens bis in Sumpfgebiete Kambodschas. Es geht um die Schicksale von Flüchtlingen und die Probleme senegalesischer Fischer. Es sind die großen Themen der Zeit und existenzielle Fragen, die die 160 Künstler in Szene setzen. Identität und Erinnerung, Verlust und Heimat, Vielfalt und Meinungsfreiheit. Es geht um menschliche Tragödien und historische Zusammenhänge, ökologische und ökonomische Bedingungen, humanitäre Missstände und Umweltkatastrophen.

Aufsässig soll die Kunst sein, heißt der Appell der Kuratoren und des künstlerischen Leiters, Adam Szymczyk. Sie soll sich stemmen gegen neoliberalistische Tendenzen, gegen Unterdrückung und Gewalt. Sie soll aber auch "ein Schritt auf dem Weg in eine Welt sein, in der wir leben wollen". Politisch wie schon lange nicht mehr präsentiert sich die documenta. Aber nicht alles, was eine Botschaft hat, ist von künstlerischer Brisanz oder Relevanz. Eine zugespitzte These und eine ästhetische Vision fehlen. Doch was ist Kunst in diesen Tagen, in der die Welt aus den Fugen gerät?

In Kassel ist sie vielfach flüchtig. Tanz, Musik, Videos, Filme, Installationen, wenig Malerei, viel Performances. Etwa die des Duos Prinz Gholam, das auf dem alten Friedhof am Lutherplatz zeitlupenlangsam die Posen berühmter Bilder der Kunstgeschichte nachstellt. Kunst an der Grenze zur Sichtbarkeit. Kompakt und schlüssig ist das Konzept in der Neuen Galerie. Verfolgung, Raubkunst sind einige der Themen. Hier ist das "Rose Valland Institut" von Maria Eichhorn eingerichtet, der es um Aufarbeitung und Wahrheit, um unrechtmäßige Besitzverhältnisse in Deutschland geht. Rose Valland war eine Konservatorin in Paris, die die Raubzüge der Nationalsozialisten in Listen vermerkt hat und sich nach dem Krieg für die Rettung und Rückgabe enteigneter Werke eingesetzt hat.

Neben dem Blick auf das große Ganze, gelingt es den Kuratoren aber auch, den Fokus auf berührende und erstaunliche Schicksale zu lenken. Das von Lorenza Böttner, als Ernst Lorenz Böttner geboren etwa (Neue Galerie), oder das der Kinderbuchillustratorin Tom Seidmann-Freud (Grimmwelt).

Vor fünf Jahren war gute Kondition Voraussetzung für den Besuch der documenta. In diesem Jahr kann Orientierungssinn angesichts der 35 Spielorte nicht schaden. Oder man lässt sich auf die Orientierungslosigkeit ein und kann auch Umwegen etwas abgewinnen. documenta 14 eben.