Audis Ideenschmiede an der Spree

26.08.2019 | Stand 02.12.2020, 13:12 Uhr
Bällebad und Chill-Out-Waben - auch das gibt es in der Berliner Factory. Das Audi-Denkwerkstatt-Team "E-Mobility "arbeitet bevorzugt mit neonfarbenen Post-it-Zettelchen. −Foto: Warter/Audi

Kulturwandel und digitale Transformation - der Ingolstädter Autobauer steht vor großen Umbrüchen. Gelingen soll das unter anderem mit der "Denkwerkstatt" . Hier schnuppern Audianer Start-up-Luft. Ein Besuch in Berlin.

Einen ganzen Raum hat das Team "E-Mobility" mit neonfarbenen Post-it-Zettelchen zugepflastert. Eine analoge Ideensammlung für ein digitales Bonussystem. Der Plan der vier Audi-Mitarbeiter: Sie wollen E-Autofahrer zu einer besonders ökologischen Fahrweise bewegen. Gelingen könnte das ihrer Meinung nach mit Belohnungen - etwa einer Gratisladung. Seit gut fünf Wochen grübeln nun Hannes Bormann, Alexandra Weise, Martina Kinna (alle drei aus Ingolstadt) und Liane Kroop (Werk Neckarsulm) schon in der Audi-Denkwerkstatt in Berlin an einer Lösung. Was aus ihrem Projekt am Ende wird, wird sich erst in gut viereinhalb Monaten zeigen.

Das Quartett ist eines von drei Teams, das momentan in Berlin an Audis Zukunft schraubt. Sie sollen "Pain-Points" ausloten, "Sweet Spots" definieren und das fertige Projekt am Ende "pitchen". Das ist Start-up-Sprache und bedeutet nichts anderes, als Kundennöte zu erkennen, diese mithilfe eines profitablen Geschäftsmodells zu beseitigen und das Projekt schließlich in Kurzform zu präsentieren. Genau das machen seit rund zwei Jahren ausgewählte Audianer in Berlin. In nur sechs Monaten sollen fertige Produkte entstehen. Nebenbei will der vom Diesel-Skandal gebeutelte Ingolstädter Autobauer mit der Denkfabrik aber auch die digitale Transformation forcieren und den Kulturwandel vorantreiben.

Während sich Audi normalerweise abschottet, damit Konkurrenten nicht an wichtige Informationen kommen, passiert in Berlin das genaue Gegenteil. Die Mitglieder der Denkwerkstatt arbeiten in der Factory - einer ehemaligen Fotopapierfabrik der Firma Agfa. Das 14000-Quadratmeter-Gebäude gilt als eines der größten Start-up-Zentren Europas. Der Backsteinbau aus der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde aufwendig renoviert und von Innendesignern luxuriös-modern gestaltet. Unverputzte Wände, unverschalte Lüftungsrohre und sichtbare Kabelschienen an der Decke sollen ein wenig den "rohen" Charme bewahren. Wer ein bisschen entspannen will, spielt Tischtennis, hüpft ins Bällebad oder legt sich in eine Chill-Wabe oder auf das Stockbett-Sofa. In der Tiefgarage des Gebäudes parken keine Autos, sondern Fahrräder. Vor dem Eingangstor warten E-Roller, E-Bikes und E-Scooter von Leihfirmen wie Tier, Lime und Jump.

Vor allem soll man in der Factory miteinander in Kontakt kommen. "Networken", nennt sich das im Fachjargon. So sind beispielsweise zwar die Toiletten nach Geschlechtern getrennt, doch das Händewaschen vor dem Spiegel erledigt man gemeinsam - schon wieder eine Gelegenheit für ein Gespräch mehr. Zahlreiche Veranstaltungen im Hause sollen die Menschen genauso zusammenbringen wie Gemeinschaftsarbeitsräume. Digitale Nomaden, Start-ups aber auch etablierte Firmen wie Audi treffen in der Factory aufeinander. Auch Siemens, Ergo und Decathlon haben sich eingemietet.

Ungewohnt ist für viele Audianer die Kantine der Factory - hier gibt es bevorzugt vegetarische Küche. "Da sind vor allem die Ingolstädter Mitarbeiter meistens kurz irritiert", sagt Matthias Brendel, Chef der Audi-Denkfabrik seit ihrer Gründung vor rund drei Jahren. Der Mann, der die Marke mit den vier Ringen an der Spree in die digitale Zukunft führen soll, stammt ursprünglich aus der alten Welt: Acht Jahre lang arbeitete er in der Ottomotorenentwicklung des Autobauers, promovierte in dem Bereich - nun leitet er die Denkwerkstatt, gemeinsam mit sieben weiteren "Residents", wie sich die feste Berliner Besetzung nennt.

Als Basis für den Umbruch haben sich die Ingolstädter nicht umsonst die Bundeshauptstadt herausgesucht. Bei Gründern und Kreativen ist Berlin beliebt. Der Autobauer hat sozusagen das Ohr am Puls der Trends. Laut dem Deutschen Start-up-Monitor 2018 sitzen knapp 16 Prozent aller deutschen Start-ups in Berlin - in ganz Bayern sind es gut 12 Prozent.

Auch andere VW-Konzerntöchter brüten in Berlin neue Ansätze aus. Brendel zeigt aus dem Fenster Richtung Fernsehturm. "Auf der anderen Seite der Spree befindet sich das Porsche Digital Lab." Die Stuttgarter tüfteln dort an Projekten mit Künstlicher Intelligenz.

Wer ein halbes Jahr in Berlin Start-up-Luft schnuppern will, muss sich bewerben. Bis zu 15 Teilnehmer können aufgenommen werben. Die Themen, die von den Teams der Denkwerkstatt bearbeitet werden müssen drehen sich immer um Mobilität in der Großstadt. Die Teilnehmer kommen aus verschiedensten Fachbereichen, von der Produktion über die Beschaffung bis hin zu Entwicklung oder Kommunikation.

Übrigens wird nicht nur zusammen gearbeitet, sondern auch zusammen gewohnt. So sollen sich die Teilnehmer schneller kennenlernen und in der Hauptstadt ankommen. Die rund fünfeinhalb Kilometer von der Factory entfernten Appartments am Rosenthaler Platz werden von nach Diversitätskriterien zusammengewürfelten 3er-WGs bewohnt: immer eine Frau und zwei Männer oder umgekehrt.

Aber wer nun meint, die auserwählten Audianer aalen sich in Berlin bei Fritz-Cola und Cold-Brew-Kaffee, täuscht sich. Auch im Start-up-Labor wird Disziplin gefordert. "Wir legen vor allem Wert auf Pünktlichkeit", sagt Brendel. Spätestens um 9 Uhr ist Dienstantritt.

"Mit jedem Durchlauf werden wir ein Stück professioneller", sagt Brendel. Unter anderem musste sein Team lernen, auch Manager einzuladen. Die können für eine Woche oder einen ganzen Monat nach Berlin kommen. Die Führungskräfte sollen vom Konzept der Denkwerkstatt überzeugt werden - denn wie sich schnell herauskristallisierte, mangelte es dem Projekt nicht an willigen Bewerbern, sondern an Chefs, die bereit waren, ihre Mitarbeiter für ein halbes Jahr freizustellen.

Den Managern wird in der Denkwerkstatt keine Extrawurst gebraten. Auch sie wohnen in einer WG mit den anderen Teilnehmern. Auch sie müssen "raus aus der Komfortzone" und mit Stift und Papier bewaffnet Kundenumfragen machen, wenn sie an Projekten mitarbeiten. Für die Manager sei es teilweise eine harte Umstellung, sagt Brendel. "Manche müssen erst lernen, auch mal zuzuhören." Viele neigten dazu, den anderen gleich schlaue Ratschläge zu geben. Doch in der Denkwerkstatt zähle ihr Wort nicht mehr als das der anderen Teilnehmer.

In nur sechs Monaten zu einem fertigen Produkt zu kommen, ist ambitioniert. Deshalb gibt es in nahezu jedem Audi-Fachbereich ranghohe "Paten", die den Denkwerkstatt-Teams schnell technische Unterstützung oder Zugriff auf Daten ermöglichen. Für ihre Arbeit haben die Teams natürlich Budgets - meist komme man mit 20000 bis 40000 Euro pro Gruppe aus, sagt Brendel. Schließlich müssen Software programmiert und Prototypen gefertigt werden.

Entstanden sind in der Denkwerkstatt in den vergangenen zwei Jahren unter anderem eine mobile Ladesäule ("Park-E"), ein Fuhrpark-Beratungstool für Händler ("Flietup") und eine Weiterbildungs-App ("Myndset"). Doch nicht alles gelingt. Von 13 Projekten wurden am Ende fünf eingestampft. Fast immer kommt aber am Ende etwas anderes heraus, als am Anfang geplant. Und so bleibt spannend, was das Team "E-Mobility" am Schluss präsentiert. Der Strom an Ideen dürfte dem Quartett nicht ausgehen. Höchstens die Post-its.

DK