Angekommen in einem fremden Land

28.01.2011 | Stand 03.12.2020, 3:13 Uhr

Auf Ungewöhnliches stößt man als Europäer in Pune an einigen Stellen.

Gerolsbach/Pune (SZ) Wenn Bianca Eder im Sommer wieder in Deutschland angekommen ist, wird sie nicht nur unzählige Erinnerungen mitbringen: Auch die kleinen Narben, die sie sich bei ihrem Aufenthalt im indischen Pune zugezogen hat, werden sie wohl immer begleiten.

Ein Jahr verbringt die 19-Jährige aus Gerolsbach im Rahmen eines Freiwilligendienstes in einem indischen Waisenhaus. Sie spielt und lernt mit den Kindern, beaufsichtigt und wäscht sie – und versucht sich auch sonst voll einzubringen.
 

Nur kurze Zeit nach dem Abitur, Ende August, packte sie das Nötigste in ihren Koffer und machte sich auf zu ihrem bisher größten Abenteuer. Dass sie irgendwann ins Ausland will, war ihr schon länger klar. Als sie dann im Internet auf den Internationalen Bund stieß, der Freiwilligendienste vermittelt, wusste sie auch, was sie tun möchte: sich engagieren, schließlich ist sie auch in Gerolsbach aktiv, im Fußballverein, in der Kirchengemeinde und bis zum Abitur auch in der Schultanzgruppe. Nach strengen Auswahlgesprächen stand fest, dass sie beim Projekt Society of friends of the Sassoon Hospital im indischen Pune in einem Waisenhaus arbeiten wird.

Vergütung gibt es keine, nur ein kleines Taschengeld. Visum und Impfungen musste die Gerolsbacherin selbst zahlen, Flug, Kost und Logis werden aus Bundesmitteln finanziert. Zum Projekt gehört auch, dass die freiwilligen Helfer Spenden akquirieren (siehe Infokasten), die dann den Einrichtungen vor Ort zugute kommen.

Vor der Reise hatte Bianca an zwei Vorbereitungstreffen teilgenommen und sich mit Infomaterial eingedeckt. Aber natürlich war sie auch damit nicht wirklich für das präpariert, was auf sie zukommen würde. Fremdes Land, zum ersten Mal längere Zeit weg von zu Hause und eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, inmitten von Menschen, deren Sprache sie nicht spricht. Und dann noch der anhaltende Monsunregen . . . "Ein Wahnsinnsland, superaufregend, toll und spannend, aber eben auch sehr anstrengend", erzählt Bianca.

Bei anhaltendem Regen kam sie mit ihrer Zimmer- und Projektgenossin Julia am Flughafen an, erlebte einen Stromausfall und dann eine aufregende Taxifahrt durch die lauten und stickigen Straßen der 2,5-Millionen-Einwohner-Stadt Pune mit riskanten Wendemanövern und viel Gehupe. Angekommen in der Wohnung, die drei junge Frauen beherbergt, stellte Bianca fest, dass dort außer Betten, einer Toilette und einem Duschkopf nicht viel vorhanden war. Also begaben sie sich zu dritt auf Einkaufs- und Entdeckungstour. Sie fuhren mit der Rikscha, einem Fahrradtaxi – und bezahlten nur den Einheimischenpreis. "Den haben wir uns hart erkämpft und waren richtig stolz", sagt Bianca. Und nach einem "richtig, richtig leckeren" indischen Essen sahen sie sich eine klassische Tanzshow an – beeindruckend, "aber für uns Europäer sieht das nach zwei Minuten immer nach dem Gleichen aus", gibt die 19-Jährige zu.

Bei ihrem Ausflug machten die Mädels auch Bekanntschaft mit den hartnäckigen Stechmücken, die in der schwülen Hitze beste Lebensbedingungen finden, ganz im Gegensatz zu Europäern. Da half nur ständiges kaltes Duschen. Ungewohnt waren für Bianca auch die zahlreichen Bettler auf der Straße. "Hier ist Betteln ein anerkannter Beruf", stellte sie bald fest. "Viele sind stolz darauf, weil das in ihrer Kaste einfach so ist." Da sich damit auch vergleichsweise viel Geld verdienen lasse, verstümmelten sich manche sogar mutwillig oder täuschten es zumindest vor.

Irgendwann lernte Bianca damit zu leben, wie auch mit den aufdringlichen Blicken mancher Inder, die – wie Bianca erfuhr – glauben, dass weiße Frauen alle reich und leicht zu haben sind. Oder mit dem unglaublichen Gedränge in stickigen Räumen oder Bussen, die zudem für nicht Einheimische, die der Schrift nicht mächtig sind, nach keinem nachvollziehbaren Prinzip fahren. So irrte Bianca bei ihrer ersten Busfahrt ohne Hilfe erst einmal ewig umher.

Gewöhnungsbedürftig waren für Bianca auch die schrillen Farben an jeder Ecke und der ohrenbetäubende Lärm, auf der Straße, in Gebäuden und bei Festen: "Ohne jemandem zu nahe treten zu wollen – die Inder haben kein Gefühl für Lautstärke. Je lauter und greller, desto besser."

Die andere Seite der indischen Mentalität: Die Frauen wurden immer wieder überallhin eingeladen, die Menschen zeigten Interesse, zudem lernten sie die indische Gelassenheit schätzen, wenn gerade wieder einmal etwas nicht funktionierte. "Shanti, shanti", habe man zu ihnen dann gesagt, "immer mit der Ruhe". Zum Beispiel beim Internetanschluss in der Wohnung. Da wurde aus "nächstes Wochenende werdet ihr Internet haben" eine Zeitspanne von vier bis fünf Wochen. Und: "Wenn irgendwer denkt, dass Deutschland kompliziert ist, dann versucht mal in Indien als Ausländer eine Simcard fürs Handy zu besorgen", sagt Bianca. Die typische Reaktion eines Inders auf solche Alltagspannen: "ein belustigtes Lachen, ausgebreitete Arme und mit einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen kommen die Worte ,welcome to India’".

Nach einigen Kommunikationsschwierigkeiten zu Beginn integrierte sich Bianca auch immer besser im Waisenhaus, in dem über 60 Kinder und Babys betreut werden. Sie punktete bei den Betreuerinnen bald mit den ersten Brocken Marathi, der Einheimischen-Sprache, und erhielt einen Bindi aufgeklebt (der typische rote Punkt zwischen den Brauen). Den sollte sie fortan regelmäßig tragen. "Du siehst aus wie ein indisches Mädchen, nur dein Haar . . .", habe sie als Kompliment gehört. Auch die Aufgaben, die man ihr zutraute, wurden immer mehr. Sie durfte mit den Babys allein zur Untersuchung ins Krankenhaus, unterrichtete Englisch, organisierte Bestellungen und erkämpfte sich auch, "niedere" Arbeiten, wie das Abwaschen von Tellern, erledigen zu dürfen. Mit den Spendengeldern aus der Heimat kaufte Bianca den Kinder Spiele – "die sind vor Freude fast ausgeflippt". Weiteres Geld will sie in den Kauf von Matratzen investieren, die in den Räumen für junge Mütter, die ebenfalls im Waisenhaus wohnen, ausgelegt werden. Denn momentan schlafen sie auf dünnen Matten auf dem harten Boden.

Die bisher wohl größte Herausforderung hat Bianca mittlerweile bewältigt. Schon von Beginn an hatte sie immer wieder Hautprobleme, fühlte sich krank und erschöpft. Lange schob sie das auf die weit verbreiteten Bettwanzen. Ein Besuch im Krankenhaus förderte zutage, was die anderen Ärzte, bei denen sie war, nicht erkannt hatten: Sie litt an der Krätze. Diese parasitäre Hautkrankheit wurde wohl über sogenannte Krätzemilben im Waisenhaus übertragen. Da sei ihr auch klar geworden, warum drei Viertel der Kinder so schlimme Hautprobleme hatten, sagt Bianca.

Wenigstens kam so das Problem im Waisenhaus ans Tageslicht, wo kurz darauf – wie auch in Biancas Wohnung – eine Säuberungsaktion stattfand. Bianca und ihre ebenfalls betroffene Freundin schluckten fleißig Antibiotikatabletten, nahmen Salben und Cremes – und es wurde zunehmend besser. "Ich werde zwar Narben davon tragen", sagt Bianca. "Aber das ist irgendwie sogar was Besonderes und gehört nun mal zu meinem Lebensweg. Und Indien wird mich im Nachhinein sicherlich prägen, jetzt halt auch äußerlich. Manchmal hasst man dieses Land, aber ich weiß nun, dass ich es meistens lieben werde. Dazwischen gibt es wohl nichts."