Marquardsholz
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01.10.2015 | Stand 02.12.2020, 20:44 Uhr
»Alle unsere Wünsche haben sich erfüllt«: Steffi und Steffen Hübner blicken zufrieden zurück auf ihre 25 Jahre im Westen. −Foto: Münch, Jochen

Seit der Wiedervereinigung, also seit 25 Jahren, leben Steffi und Steffen Hübner im Landkreis Roth. Für die beiden früheren DDR-Bürger besitzt der Tag der deutschen Einheit aber so gut wie keine Bedeutung. „Das ist eher ein Tag für die Politiker“, sagt Steffi Hübner. Das Ehepaar aus Marquardsholz hat stattdessen einen eigenen Gedenktag. Es ist der 13. November, an dem sie endlich ausreisen durften. Für eine bessere Zukunft im Westen.

Der 3. Oktober 1990 ist kein Tag, der Steffi und Steffen Hübner im Gedächtnis geblieben wäre. Wie das Ehepaar mit seinen kleinen Kindern den ersten Tag der deutschen Einheit verbrachte – sie wissen es einfach nicht mehr. Es wird aber nichts Wichtiges passiert sein. Denn es war ja ein Feiertag, die Geschäfte hatten geschlossen, nirgendwo wurde gearbeitet. Es war also ein verlorener Tag für Steffen Hübner, um für sich und seine junge Familie eine neue Existenz aufzubauen.

Erst ein paar Monate zuvor waren die gebürtigen Sachsen in einer kleinen, günstigen Wohnung im Allersberger Ortsteil Altenfelden untergekommen. Ein bescheidener Start im so lange ersehnten Westen. „Unsere Anfangszeit mussten wir ja vom Arbeitslosengeld bestreiten“, erzählt Steffen Hübner.

Was die beiden Sportwissenschaftler aus dem Osten aus ihrem neuen Leben im Westen machen wollten, war völlig offen. Einen festen Plan, den hatten sie nicht. Aber sie hatten Hoffnung und den Ehrgeiz, möglichst schnell auf eigenen Beinen zu stehen. Und besser als das, was Steffi und Steffen Hübner zuvor über viele Jahre hinweg in der DDR erlebt hatten, war dieser Start in Westdeutschland allemal.

„Wir hatten zwar kein schlechtes Leben in der DDR, denn wir hatten einige Beziehungen“, erzählt Steffen Hübner. „Aber diese Aussichtslosigkeit und diese ständige schlechte Stimmung – das war einfach unerträglich.“ Gemeinsam mit seiner Frau, die er im Studium kennengelernt hatte, arbeitete er ab 1982 als Trainer der Wasserspringer beim Dresdener Sportclub. „Aber wir waren nicht in der Partei – also hatten wir auch keine Chance, um in diesem System weiterzukommen.“ Sobald ein Wettkampf im Ausland bevorstand, schnappten sich die Funktionäre die Reisetickets. „Wir Trainer mussten zu Hause bleiben.“

Zur Wut über diese Benachteiligung kam bei den Hübners noch der Frust über das politische System der DDR. „Als Trainer mussten wir die Schüler auch politisch ausbilden“, sagt Steffen Hübner. „Das war ja nur Gehirnwäsche von früh bis spät“, fügt seine Frau hinzu. „Und immer in seinem Land eingesperrt zu sein, das war ein furchtbares Gefühl.“

Im Jahr 1987 hatten es die Hübners dann endgültig satt. Die junge Familie stellte ihren Antrag auf Ausbürgerung – wohl wissend, dass solche Verfahren oft jahrelang dauerten und dass es in der Zwischenzeit sehr schmerzhafte Konsequenzen geben würde. Nämlich die staatliche Ächtung. Noch am selben Tag wurden sie aus dem Sportclub geworfen. „Wir haben mit dem Ausbürgerungsantrag praktisch unsere Existenz aufgegeben und wussten nicht, wie es weitergehen soll“, sagt Steffen Hübner. „Aber wir haben es trotzdem gemacht.“

Fast zwei Jahre hielten Steffi und Steffen Hübner in einem tristen Büro des Turn- und Sportbundes der DDR durch, wo sie fortan Hilfsarbeiten zu verrichten hatten. „Briefmarken kleben, Zeit absitzen, und niemand hat mit uns geredet, weil wir ja die Ausreise beantragt hatten“, erzählt Steffi Hübner. Doch dann war er da, der Moment der Befreiung: Am 6. November 1989, also drei Tage vor dem Mauerfall, bekamen die Hübners ihre Papiere für die Ausbürgerung und ihre Bahntickets. Der 13. November 1989 – also genau zwei Jahre nach ihrem Antrag am 13. November 1987 – war der Tag ihrer offiziellen Ausreise. Deshalb ist der 13. November auch derjenige Tag, den Steffi und Steffen Hübner feiern – nicht den Tag des Mauerfalls oder den Tag der deutschen Einheit. Als Symbol für ihren Neuanfang stehen auch die Ziffern 13 und 11 auf ihren Autokennzeichen.

Die Ironie dieser Geschichte: Weil es diesen vorgegebenen Termin für die Ausreise gab, ging der Mauerfall an den Hübners quasi völlig vorbei. Sie wollten sich an die Formalien halten, um ja nicht Gefahr zu laufen, doch noch als Geflüchtete zu gelten. Ein Wiedersehen mit ihren Familien wäre so schier unmöglich gewesen, wenn die DDR überlebt hätte. „Es hat ja damals keiner gewusst, ob die Grenzen wirklich offen bleiben“, sagt Steffi Hübner. Zigtausende DDR-Bürger machten sich deshalb nach dem Mauerfall Hals über Kopf in den Westen auf. Die Hübners verfolgten dagegen nur die Fernsehbilder und harrten noch ihre vier Tage aus, um die langwierige Entlassung aus der Staatsangehörigkeit sauber zu Ende zu bringen. „Wir waren dann praktisch die Letzten, die drüben ankamen“, erzählt Steffen Hübner lachend.

Der Weg der jungen Familie im Westen erinnert 25 Jahre später doch sehr an das, was derzeit mit den Flüchtlingen geschieht: Zuerst landeten die Hübners in einer zur Notunterkunft umfunktionierten Kaserne, ehe es weiterging in das restlos überfüllte Auffanglager für DDR-Ausreisende in Gießen. Nach der dortigen Registrierung bekam die Familie eine Wohnung im Haus eines älteren Ehepaars im hessischen Lauterbach. „Da haben wir dann bei Null angefangen und haben gehofft, dass wir es irgendwie packen“, sagt Steffen Hübner.
Mit Ehrgeiz und Glück hat alles gut geklappt. Die Schwiegertochter der Vermieter nahm ihn bald nach der Ankunft zu den Schulungen eines Vermögensberaters mit. „Ich bin da einfach mal mit, ich hatte ja Zeit“, sagt Steffen Hübner. Und wie es der Zufall wollte: Als er ein paar Monate später mit seiner Familie erstmals die Verwandten seiner Mutter in Allersberg besuchte, zeigten diese ihm eine Stellenanzeige, in der ein Vermögensberater in Roth gesucht wurde. Also nichts wie weg aus Hessen, auf in ein neues Leben. „Auch wenn es am Anfang ganz schön hart war“, sagt Steffen Hübner. Denn als Vermögensberater, den keiner kennt, ist das Leben kein leichtes.

25 Jahre später blickt das Ehepaar aber rundum zufrieden zurück. „Wir haben hier Freunde gefunden und auch beruflich Fuß gefasst“, sagt Steffen Hübner, der heute mit seiner Frau ein schönes Anwesen im Hilpoltsteiner Ortsteil Marquardsholz bewohnt und kürzlich das Jubiläum seines eigenen Büros in Hilpoltstein feierte. „Dass wir damals weggegangen sind, haben wir jedenfalls nie bereut, denn alle unsere Wünsche haben sich erfüllt“, sagt Steffi Hübner, die nicht lange nach ihrem Mann auch einen neuen Job fand und nach ein paar Monaten bei der Volkshochschule nun schon seit 1991 als Sportlehrerin in Teilzeit am Hilpoltsteiner Gymnasium arbeitet.
„Uns geht’s schon gut in diesem einen Deutschland“, sagt Steffen Hübner, „auch wenn das Viele vielleicht gar nicht mehr so schätzen.“ Der Tag der deutschen Einheit könne deshalb ein guter Feiertag sein, um sich bewusst zu werden, dass „nicht alles selbstverständlich“ ist. Vor allem die Freiheit.