Abstraktion, Persiflage und Zeitgeist

13.11.2006 | Stand 03.12.2020, 7:20 Uhr

Nürnberg (DK) Drei Mal Tanz, drei Mal Moderne – drei ganz unterschiedliche Positionen. Mit seinem neuen Tanzabend "Core Samples" – deutsch: Bodenproben – untersucht das Tanztheater Nürnberg auf der Bühne des Opernhauses das Feld des Tanzes selbst: seine Voraussetzungen, Formen und Ausdrucksmöglichkeiten, aber auch seine Grenzen.

Den Anfang macht die Uraufführung von "Slice to Core" des finnischen Choreografen Jorma Elo. Ein Stück reinen, abstrakten Tanzes auf hohem Niveau. Meditativ perlt Minimal Music (Philipp Glass) durch den Raum – pulsierende Ruhe, Bewegung ohne Fortkommen. In rasendem Tempo scheint sich dazu der Tanz aus den Körpern der sechs nachtblau gewandeten Tänzer befreien zu wollen. Hochkomplexe, bis ins Detail ausgeformte Bewegungsabfolgen von großer Eleganz fließen in geometrischen Arrangements über die fast leere, dunkle Bühne, auf der – schöner Kontrast – zwei riesige trapezförmige Kastenelemente ganz langsam umher gleiten. Immer weiter, weiter geht der Tanz – sogar noch, als der Vorhang fällt. Eine virtuose technische Leistung, ein reiner ästhetischer Genuss.

Das traditionelle Ballett mit seiner ätherischen Abgehobenheit ist ein beliebter Gegenstand der Parodie. Mit dem hier in Deutschland erstmals gezeigten "Practice Paradise" persifliert Stijn Celis den Klassiker des Stimmungsballetts, Michail Fokines "Les Sylphides". Doch statt schwebender Elfen in weißem Tüll tummeln sich zu Frédéric Chopins Musik wunderliche soziale Randexistenzen in schwarzen Mänteln auf der nächtlichen Waldlichtung – ungelenk, naiv und durchaus anrührend. Plötzlich taucht depressiv watschelnd ein männlicher Paradiesvogel in knallrotem Tutu und Federbusch auf, und nach reichlich tänzerischem Slapstick wird eine der schwarzen Gestalten nach der anderen in exzentrischem Rot wiedergeboren. Eine hübsche Idee – auch choreografisch lässt Mats Ek grüßen –, die sich aber schneller abnutzt, als die Musik spielt; und allzu kalkuliert erscheint auch die Komik.

Zeitgeistig-experimentell wird es schließlich mit "Paradise Practice", von Stijn Celis für das Tanztheater Nürnberg neu gefasst . Die Bühne präsentiert sich hier als Kampfzone mit Showeffekt: Sechs Tänzer in sportivem Dress (Kostüme: Kathy Brunner), die Männer mit Boxhandschuhen, zelebrieren den selbstverliebten Körperkult des 21. Jahrhunderts, während eine siebte mit einem drahtlosen Mikro sich wie ein wildgewordener Teenie-Moderator gebärdet. Erotik und Brutalität liegen eng beieinander: Brunftrufe und Muskelspiele zu einer Easy-listening-Endlosschleife auf der Tonspur erzeugen eine grausige Komik; und immer wieder wird die Frage nach Gott gestellt. Bis schließlich der himmelhohe säulenförmige Vorhang fällt und über allem einen befrackten Dirigenten zeigt, der sich wie irr ausschüttet vor Lachen . . .

 

Vorstellungen: 21. Nov. (20 Uhr), 26. Nov. (15.30 Uhr), 1. Dez. (20 Uhr). Karten unter ( 0180)134 42 7 6.