Randnotiz
Abkippendes Verständnis

19.02.2021 | Stand 06.03.2021, 3:34 Uhr

An diesem Wochenende werden sie wahlweise wieder auf hilflose Flipcharts gekritzelt oder in mucksmäuschenstille Kabinen gebrüllt: die Matchpläne der Übungsleiter im Profifußball.

Taktik - so hieß das früher, lange vor Tikitaka. Und auch sonst hört die große Mehrheit der über 80 Millionen Bundestrainer in Deutschland mit immer größer werdender Verwunderung zu, was da aus Trainermund über ihren Fußball geredet wird. Dabei wissen sie doch alle seit Kindesbeinen, dass man dem Gegenspieler sogar bis aufs Klo folgen oder auch mal den gegnerischen Stürmer oder Spielmacher "umwixen" muss, um das Ding zu gewinnen; Jahrzehnte vor einem "Aggressive Leader". Im Zweifelsfall die Kugel auch einfach mal nach vorne klopfen. Das hat bisher noch immer gereicht.

Heutzutage also muss der abkippende Sechser seinen Platz in der letzten Verteidigungslinie finden und dem diametral und asymmetrisch anlaufenden Linksverteidiger damit die Räume öffnen, bis der ballferne Zehner an der ersten Pressinglinie das Packing mit einer vertikalen Spieleröffnung bis in die Box des kompaktstehenden und auf den zweiten Ball fixierten Gegners überspielt. So in etwa jedenfalls. Und das wahlweise in einem 3-4-3, das sich aber auch schnell zu einem 5-3-2 oder einem 4-1-4-1 bis hin zu einem 4-2-2-2 umfunktionieren lässt. Je nach Gegenpressing. Manchmal kommt auch ein 0-4-3 heraus, wie es Bayer Leverkusen in der ersten, katastrophalen Halbzeit in Bern mit einer quasi nicht existierenden Verteidigung passierte.

Wenn am Stammtisch das Verständnis für die taktischen Zwänge und Finessen des heutigen Hochgeschwindigkeitsfußballs auf engstem Raum nach dem Studium eines 40-sekündigen Videoschnipsels komplett abzukippen droht, kommt bestimmt noch ein alter "Erfolgstrainer"der Kategorie Mario Basler von irgendwo her und erklärt das komplexe Spiel mit Worten wie: Wir haben damals nicht so rumgemacht, wir sind raus und haben den Gegner weggehauen! Dafür gibt es als Lohn für die hohle Phrasendrescherei dann ein vielfaches Daumen hoch. Auch schon zu einer Zeit, als man statt des zweiten Balls nach einem hohen Pass auf den Mittelstürmer schon die erste und einzige Kugel des Vereins aus dem Teich neben dem Platz fischen musste. Aber heute wie damals gilt eine alte Weisheit: Ballferner als der Zwölfer ist keiner. Denn das ist und war schon immer der Ersatztorhüter.

Christian Rehberger