Ingolstadt
"Druck ist immer das Falsche"

Trainer Jens Keller über seine Rettungsmission beim FC Ingolstadt

11.03.2019 | Stand 02.12.2020, 14:27 Uhr
In zehn Spielen mit dem FC Ingolstadt holte Trainer Jens Keller elf Punkte. Dass es nicht mehr sind, lag zum einen an der Offensivschwäche der Schanzer und zum anderen an den teils strittigen Schiedsrichterentscheidungen. −Foto: Bösl

Vor 100 Tagen startete Trainer Jens Keller die Rettungsmission beim FC Ingolstadt. Der 48-Jährige übernahm die Schanzer auf dem letzten Tabellenplatz und steht mit dem Klub seit dem vergangenen Spieltag wieder ganz unten. Mit einer konsequenten Linie will er den FCI zum Klassenerhalt in der 2. Fußball-Bundesliga führen.

Herr Keller, an Ihrer alten Wirkungsstätte sind Sie zuletzt von den Union-Fans als "Fußballgott" begrüßt worden. Glauben Sie überhaupt noch an selbigen? Schließlich belohnte sich Ihre Mannschaft in den letzten drei Partien trotz couragierter Auftritte nicht und hatte zudem Pech mit einigen Schiedsrichter-Entscheidungen.

Jens Keller: Wir müssen aufpassen, dass wir uns selbst kein Alibi schaffen. Sicherlich sind sehr viele Dinge unglücklich gelaufen. Ich bin aber der Überzeugung, wenn man korrekt und intensiv weiterarbeitet, dass sich solche Dinge auch drehen. Ich muss ehrlicherweise aber auch sagen, dass es unheimlich schwer ist, so etwas wegzuschieben, weil wir oft um unseren Lohn und unsere Arbeit gebracht wurden. Trotzdem müssen wir weitermachen. Und das werden wir auch.

Sie sind inzwischen 100 Tage im Amt. Sie übernahmen den FCI auf dem letzten Tabellenplatz - und stehen nach dem vergangenen Spieltag wieder ganz unten. Haben Sie sich die Rettungsmission so kompliziert vorgestellt?

Keller: Dass es schwer wird, war mir schon bewusst. Es gab ja Gründe, warum die Mannschaft ganz unten stand. Wenn man nach 15 Spielen nur eines gewonnen hat, kann man nicht hergehen und sagen: "Das schaffen wir locker." Wir machen inzwischen sehr viele Dinge richtig - aber nicht alles.

Sie gelten als Verfechter einer eingespielten Mannschaft. Nach den Niederlagen gegen Berlin, Köln und St. Pauli: Wann sehen Sie den Zeitpunkt gekommen, maßgeblich etwas zu ändern und vielleicht auch vom 4-3-3- in ein 4-4-2-System zu wechseln?

Keller: Wenn Sie mir sagen, dass wir das Tor treffen, wenn wir das System umstellen, dann machen wir das. Wir spielen uns ja immer Chancen heraus. Aber machen wir das auch in einem anderen System?

Ist der Zeitpunkt, etwas zu probieren, noch nicht da?

Keller: Das ist ja genau der Punkt. Ich sehe, dass die Mannschaft sehr gut spielt. Ich sehe aber auch, dass wir keine Punkte holen und dass wir das Tor nicht machen. Dennoch: Jetzt zu sagen, dass wir das System umstellen müssen, dazu fehlt mir ein bisschen die Fantasie.

Dann anders gefragt: Wie wollen Sie die Offensivschwäche in den Griff bekommen? Wie gehen Sie mit Spielern wie Darío Lezcano oder Thomas Pledl um, die zuletzte beste Chancen ungenutzt ließen?

Keller: Das ist ein schmaler Grat. Man kann es immer wieder ansprechen. Glauben Sie mir: Wenn ich den richtigen Ansatzpunkt hätte, würde ich es genau so machen. Wir müssen aufpassen, dass wir dem einen oder anderen Spieler keine Krise einreden. Denn dann wird er noch gehemmter.

Wie gehen die Spieler mit der Abschlussschwäche um?

Keller: Es ist natürlich schon eine Unzufriedenheit da. Die Defensivspieler sagen beispielsweise auch: "Ihr müsst endlich mal das Tor machen!" Aber es ist nicht so, dass man sich gegenseitig Vorwürfe macht. Das darf auch nicht passieren, denn man muss als Einheit funktionieren. Kritische Dinge darf man in der Kabine aber auch mal ansprechen und sich gegenseitig in den Hintern treten. Darío zum Beispiel weiß auch, dass er bei Union das Tor machen muss. Zumindest muss er den Ball aufs Tor bringen, wenn er aus fünf Metern zum Abschluss kommt.

Ist es in dieser Phase für Sie die schwierigste Aufgabe, dass Sie die Spieler zum einen aufbauen müssen, ihnen zum anderen aber klar vor Augen führen müssen, dass es so nicht reichen wird?

Keller: Aus meiner Sicht ist Druck immer das Falsche. Ich halte nichts von: "Du musst jetzt mal...!" Das kennt jeder aus seinem eigenen Job. Wenn man mit Druck arbeitet, wird man nie an die Leistungsfähigkeit kommen, die man hat. Ich zeige den Spielern Fehler und Situationen auf und gebe ihnen Laufwege und Lösungsmöglichkeiten mit - aber im Spiel ist es eben nochmal was anders.

Es wäre wahrscheinlich auch etwas anderes, wenn die Reservisten noch mehr anschieben und den Etablierten Feuer machen würden. Ist die Qualität im Kader nicht hoch genug?

Keller: Das möchte ich nicht sagen. Vielleicht hätte der eine oder andere ein Tor gemacht. Aber das ist nicht sicher. Ich sehe jeden Tag die Trainingseinheiten, wie Darío für die Mannschaft arbeitet und welche Situationen er durch seine Spielweise für die Mannschaft herbeiführt. Das ist auch eine Qualität. Wenn ich ihn herausnehme, habe ich dann eine Garantie, dass der nächste trifft? Wenn nicht, tausche ich dann wieder aus? Es ist auch eine Gefühlssache, ab wann man mal etwas anderes ausprobiert.

Befürchten Sie, dass die hässliche Beleidigung eines mutmaßlichen Union-Fans gegen Almog Cohen die Konzentration auf das Wesentliche stört?

Keller: Ich muss erstmal klar sagen, dass das mit Fußball überhaupt nichts zu tun hat. Das ist unter aller Sau. Es sind ganz einfach dumme Menschen, die so etwas machen. Ich bin nicht in sozialen Netzwerken, weil eben jeder Vollidiot eine Plattform bekommt und schreiben kann, was er möchte. Ich hoffe, dass Almog das nicht zu sehr beschäftigt, denn er hat mit seiner Situation (Trauerfall in der Familie, d. Red.) ohnehin genug zu tun.

Was kann man gegen die vielen Platzverweise tun?

Keller: Ich tue einen Teufel, Ausreden zu suchen. Seit ich hier bin, sind es vier. Die Gelb-Rote in Darmstadt für Thorsten Röcher war eine Vollkatastrophe. Das habe ich dem Spieler auch ganz klar gesagt. Dann sieht er in St. Pauli nochmal Gelb-Rot. Dabei frage ich mich aber, ob das eine war. Jetzt in Berlin bei Robin Krauße sage ich, okay, er zieht voll durch, das gehört im Fußball dazu und kann passieren. Er trifft dabei seinen Gegner und bekommt folgerichtig die Gelb-Rote Karte.

Und Almog Cohens Rote Karte?

Keller: Das darf einfach nicht passieren, egal in welcher persönlichen Situation er sich befindet. Man muss sich gerade als Führungsspieler beherrschen können. Wenn man alles auf die persönliche Ebene nimmt, kann man nicht Fußball spielen.

Ihr Kapitän wurde aber nur ein Spiel gesperrt.

Keller: Das ist ein anderer Aspekt. Vielleicht war der Platzverweis anhand der Fernsehbilder dann doch nicht korrekt. Wenn es eine Tätlichkeit war, dann bekommt man nicht nur ein Spiel Sperre, also hat der DFB wohl gedacht, man muss sie vielleicht auch nicht geben. Also, jetzt ist die Frage, was ich den Spielern sagen soll. Es ist schwierig, mit all diesen Situationen umzugehen.

Reden Sie über die teils strittigen Elfmeterentscheidungen?

Keller: Da muss man darüber reden. Wir wollen einfach korrekte Schiedsrichterentscheidungen. Wir wollen nicht bevorzugt, aber auch nicht so benachteiligt werden. Wir analysieren die Spiele, und da sehe ich, dass wir gegen Union zwei Elfmeter bekommen müssen. Stefan Kutschke wird umgerissen, und Darío Lezcano wird im Strafraum ins Kreuz gesprungen. Das sind Elfmeter!

Klubboss Peter Jackwerth meinte nach der Niederlage in Berlin, dass für den Klassenerhalt noch mindestens sechs Spiele gewonnen werden sollten.

Keller: Ich mache keine Hochrechnungen. Für mich verhält es sich wie immer. Das nächste Spiel ist das, das wir gewinnen wollen. Alles andere bringt ja auch nichts. Wir sind dran, es sind drei Punkte bis zu einem Nichtabstiegsplatz. Wir haben es in der eigenen Hand, es zu packen - das ist das Wichtige.

Sie waren schon als Spieler und Trainer in der Bundesliga unterwegs. Vermissen Sie nicht die größere Bühne?

Keller: Die Arbeit ist die gleiche. Ich bin nicht so der Medienmensch, dass ich sage, ich brauche das. Ich habe die Champions League erlebt, das war eine tolle Zeit, aber mir macht mein Job Spaß, mit 25 Jungs zu arbeiten. Ich will sehen, dass man in einem Verein als Team arbeitet, die Liga ist nicht so wichtig. Klar ist es nicht so wie auf Schalke, aber ich fühle mich hier rundum wohl.

Das Konzept muss also stimmen.

Keller: So bin ich damals zu Union Berlin gekommen. Da habe ich gesagt, ich sehe die Möglichkeit, aufzusteigen. Irgendwann war das auch in den Köpfen drin, und dieser Anspruch wurde mir dann - warum auch immer - zum Verhängnis.

Wenn Sie in Ingolstadt den Klassenerhalt schaffen, wollen Sie dann hier weiter etwas bewegen?

Keller: Die Option ist da. Es müssen viele Dinge zusammenpassen. Am Saisonende wird neu bewertet. Dann kommt es darauf an, welche Möglichkeiten da sind, welche Ziele man hat und wie man gemeinsam dahintersteht. Aber von den Bedingungen her ist das für mich sehr gut vorstellbar.

Auch in der 3. Liga?

Keller: In so einem Szenario, das kann ich mir zumindest vorstellen, würde es einen Umbruch in jeglicher Hinsicht geben. Aber so weit wird es nicht kommen.

Das nächste Spiel ist in Paderborn. Muss der FCI gewinnen, um weiter im Rennen zu bleiben?

Keller: Die Spieler sind keine Dummköpfe. Jedem ist die Situation bewusst. Aber wir haben es auch nach Paderborn noch immer in der Hand.

Das Gespräch führten

Gottfried Sterner und

Julian Schultz.