"Ein Rekord wird gebrochen, aber das bleibt"

06.03.2020 | Stand 02.12.2020, 11:48 Uhr
Die deutsche Schwimmerin Sarah Poewe −Foto: Hannibal Hanschke/dpa

Von Kapstadt bis nach Wuppertal:

Frau Poewe, Sie haben 2004 in Athen deutsche Sportgeschichte geschrieben - ohne es zu wissen. War es vielleicht sogar gut, dass Sie die historische Dimension Ihrer Olympia-Bronzemedaille nicht geahnt haben?

Sarah Poewe: Vielleicht, ja. Das hätte mich zumindest unterbewusst ein bisschen nervös gemacht. Ich habe es erst nach dem Wettkampf mitbekommen, als mich eine Reporterin angerufen hat. Ich habe mir eigentlich keine großen Gedanken darüber gemacht. Nicht weil ich nicht stolz gewesen wäre, sondern weil meine Religion für mich etwas Privates ist. Ich fühle mich geehrt, das ist etwas sehr Besonderes. Ich habe Geschichte geschrieben. Ein Rekord wird gebrochen, aber das bleibt.

Sind Sie ein religiöser Mensch?

Poewe: Eigentlich gar nicht. Meine Mutter ist Jüdin, mein Vater evangelisch. Deswegen bin ich mit beiden Religionen aufgewachsen. Wir haben christliche und auch jüdische Feste gefeiert. Zu besonderen Anlässen haben wir immer mit der Familie meiner Mutter gefeiert. Aber auch die christlichen Feste wie Weihnachten und Ostern, wegen dem Drumherum und den Geschenken. Meine Eltern waren sehr offen.

Sie haben eine bewegte Familiengeschichte. Ihre Großeltern sind vor dem Holocaust aus Litauen nach Südafrika geflüchtet.

Poewe: Mein Opa war der Einzige aus seiner Familie, der den Zweiten Weltkrieg überlebt hat. Alle anderen wurden umgebracht. Er kam allein als kleiner Junge mit dem Schiff nach Südafrika, wo später meine Mutter geboren wurde. Mein Vater ist Deutscher. Wir haben auch Verwandtschaft in Israel. Meine Mutter und mein Bruder waren schon dort, ich noch nie. Mein Traum ist es, eines Tages dorthin zu reisen und noch mehr über meine Wurzeln zu lernen.

2015 fungierten Sie als Patin der Schwimmwettbewerbe bei den jüdischen Makkabi-Spielen in Berlin - an dem Ort, an dem die Nazis 1936 ihre Propaganda-Spiele abhielten.

Poewe: Es war eine intensive Erfahrung, Teil dieser Veranstaltung zu sein - auch wenn ich damals hochschwanger war und nicht so viel machen konnte. Ich werde nie die Rede einer Holocaust-Überlebenden vergessen, das war sehr emotional. Da kamen schon Tränen. Wegen meiner Herkunft bin ich Teil dieser Geschichte, obwohl ich sie glücklicherweise nicht selbst erlebt habe.

Machen Ihnen die zunehmenden antisemitischen Tendenzen und der rechtsextremistische Terror in Deutschland Angst? In Halle wollte ein Mann im Oktober eine Synagoge stürmen.

Poewe: Persönlich habe ich nie Anfeindungen oder Beleidigungen erlebt. Aber natürlich macht man sich Gedanken. Vielleicht habe ich ein bisschen Angst, wenn ich meinen Davidstern trage. Ich hoffe nicht, dass es schlimmer wird. Ich fühle mich wohl in Deutschland, aber es ist schon komisch, dass man keine Leute mit Kippa sieht. Dass man zumindest das Gefühl hat, sie besser nicht zu tragen. Dabei gibt es viele jüdische Menschen in Deutschland.

Sie sind 1983 in Kapstadt geboren. Zur Schule gingen Sie mit einem gewissen Jan Frodeno.

Poewe: Ja, er ist ein bisschen älter als ich, aber wir waren auf derselben Schule und gemeinsam im Schwimmverein.

War damals schon abzusehen, dass Frodeno einmal der weltbeste Triathlet wird?

Poewe: Nein, er war eher locker, nicht so diszipliniert. Ich kannte ihn sehr gut, aber wir haben uns dann ein wenig aus den Augen verloren. Bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking trafen wir uns wieder. Ich hatte von den anderen Wettkämpfen wenig mitbekommen und nur gehört, dass ein "Frodo" im Triathlon Gold für Deutschland gewonnen hat, habe aber die Verbindung nicht hergestellt. Bei der Abschlusszeremonie stand er plötzlich hinter mir - und ich war baff. Ich wusste gar nicht, dass er auch bei Olympia ist. Ich habe mich riesig gefreut. Was er geleistet hat, ist unfassbar.

 

Eine Ihrer Ex-Schwimmkolleginnen aus Südafrika ist auch ziemlich berühmt geworden.

Poewe: Charlene, ja, die heutige Fürstin von Monaco. Auch lustig (lacht). Ich kenne sie sehr lange, wir waren bei den Wettkämpfen immer zusammen auf dem Zimmer. Sie hat damals auch ein paarmal bei mir in Kapstadt übernachtet. Ich war dabei, als sie Prinz Albert kennengelernt hat.

Erzählen Sie!

Poewe: Das war auf einer Wettkampftournee durch verschiedene Städte. Die letzte Station war Monte-Carlo, und alle Athleten waren zu einem Abendessen mit dem Prinzen eingeladen. Er ist ein begeisterter Schwimmfan und hat alle angesprochen. So fing das an. Verrückt! Und die Hochzeit 2011 war unglaublich.

Wie lief die ab?

Poewe: Es war ein viertägiges Programm. Bei der Trauung war ich im engsten Kreis dabei, man musste einen Hut tragen, was ich privat nie machen würde. Jeden Tag sind wir zu verschiedenen Veranstaltungen gegangen, immer anders gekleidet. Es war wie in einem Märchen. Das Traurige ist nur: Wenn man zu diesen Kreisen gehört, umgibt man sich mit anderen Leuten. Charlene führt seit 15 Jahren ein komplett anderes Leben als ich. Wir haben leider den Kontakt verloren. Aber ich freue mich, Teil dieser Feier gewesen zu sein.

 

Als Schwimmerin sind Sie ab 2002 nicht mehr für Südafrika gestartet, das Land Ihrer Mutter, sondern für Deutschland, das Land Ihres Vaters. Was waren die Gründe für den Wechsel?

Poewe: 1998 hatte ich mich für die Commonwealth-Spiele qualifiziert, durfte aber trotzdem nicht mitfahren. Aus politischen Gründen, das war sehr hart. Da habe ich mir als Teenager Gedanken gemacht, ich stand ja erst am Anfang meiner Karriere. Ich hatte Angst, dass ich auch nicht für Olympia nominiert werden würde. Dann setzte ich mich mit den Trainern in Deutschland in Verbindung, und letztlich kam es zum Wechsel. Es ist sauber gelaufen, die Verbände haben sich geeinigt. 2002 habe ich noch die Commonwealth-Spiele für Südafrika bestritten und ein paar Medaillen geholt, drei Monate später gewann ich bei der EM in Berlin Gold für Deutschland und meinen neuen Verein, Bayer Wuppertal. Ich wurde super aufgenommen. Geholfen hat sicher auch, dass ich zweisprachig aufgewachsen bin. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich so schnell in Deutschland wohlfühlen würde. Auch wenn ich meine Heimat Südafrika vermisse.

Sie sind bei vier Olympischen Spielen an den Start gegangen. Was waren Ihre eindrücklichsten Erlebnisse?

Poewe: Bei meinen ersten Spielen war ich 17, das war 2000 in Sydney. Da musste ich aufpassen, mich nicht zu sehr ablenken zu lassen von den ganzen Eindrücken. Allein das Olympische Dorf: Die Mensa hat 24 Stunden auf, es gibt einen Friseur, eine Post, eine Spielhalle, ein Kino, eine Wäscherei. Bei den anderen Spielen wusste ich genau, was auf mich zukommt. Da war ich reifer, erfahrener.

2004 in Athen holten Sie Bronze mit der Lagenstaffel, doch vier Jahre später in Peking lief bei den deutschen Schwimmern - und auch bei Ihnen - nicht viel zusammen.

Poewe: 2008 war das schwierigste Jahr meiner Karriere. Ich hatte mich zwei Jahre lang vorbereitet, war zurück zu meinem alten Trainer Karoly van Törös nach Kapstadt gezogen.

Unter dem Sie früher bis zu 16 Kilometer am Tag geschwommen sind.

Poewe: Ja, das ist ein Ungar, der nach der alten Schule trainieren ließ. Ich habe mich nur aufs Schwimmen konzentriert und war Anfang 2008 so fit wie noch nie in meinem Leben. Ich bin zu den deutschen Meisterschaften gefahren und wusste, dass ich gewinne. Ich war sowas von selbstbewusst und dann auch über 100 und 200 Meter Brust die Schnellste. Das war rund drei Monate vor Olympia - eigentlich keine lange Zeit, aber doch genug, um sich zu viele Gedanken zu machen.

Sie haben sich gesorgt, ob Sie Ihre Form halten können?

Poewe: Genau. Meine Werte waren gut, ich wusste, dass ich eine Medaille in Peking gewinnen kann. Da wurde ich nervös, mein Selbstbewusstsein ist komplett in Nervosität umgeschlagen. Mein Training, meine Ernährung, mein Umfeld - alles hat gepasst. Nur mein Kopf nicht. Ich habe daraus gelernt: Egal wie gut du in Form bist - wenn der Kopf nicht da ist, hast du keine Chance.

Wie ging es weiter?

Poewe: Ich sagte zu meiner Mutter: Ich kann nicht zu Olympia, ich bin nicht bereit. Und es war so. Ich wusste, dass ich es nicht schaffe, so schlimm war es. Ich stand hinter dem Startblock und hätte weinen können. Ich hatte Atemprobleme, jeder Zug war für mich eine Qual. Über die 100 Meter Brust bin ich, glaube ich, 21. geworden. Katastrophe. Ich habe nur gedacht, dass ich hier nicht hingehöre. Die 200 Meter habe ich dann abgemeldet.

Hätten Sie aus heutiger Sicht psychologische Hilfe gebraucht?

Poewe: Ich hatte psychologische Betreuung. Ich glaube, dass ich mir einfach zu viel Druck gemacht habe. Ich stand mir selbst im Weg.

Wie haben Sie es geschafft, noch einmal zurückzukehren?

Poewe: 2009 habe ich erst mal mein Studium abgeschlossen. Aber ich wollte meine Schwimmkarriere nicht so beenden. Ich bin nach Kalifornien gezogen, um unter Dave Salo zu trainieren, der unter anderem Amanda Beard zu Olympia-Bronze geführt hat. Mit Katinka Hosszu wohnte ich zusammen, hatte einen Minijob, habe mit Weltklasse-Schwimmern trainiert - und den Spaß wiedergefunden. Ich war am Anfang nicht besonders gut, aber ich hatte richtig Bock. 2011 reifte der Plan: noch ein letztes Mal zu Olympia.

Was Ihnen gelungen ist.

Poewe: Ohne meinen Verein in Wuppertal und ohne meinen neuen Coach Farshid Shami hätte ich das nie geschafft. Die EM 2012 in Ungarn war meine letzte Chance auf die Qualifikation. Da kam kurz wieder so ein Gefühl auf wie 2008: Oh Gott, ich muss es schaffen, weil ich so viel investiert hatte. Letztlich habe ich Gold über 100 Meter Brust gewonnen und bin meine beste Zeit überhaupt geschwommen. Bei Olympia gab es noch mal eine Bestzeit, das Finale habe ich knapp verpasst. Ich war die Älteste im Starterfeld, gewonnen hat eine 15-jährige Litauerin. Damit konnte ich aufhören. Millionärin bin ich mit dem Sport nicht geworden, im Gegenteil: Am Tag nach dem Karriereende musste ich arbeiten. Aber ich habe das Schwimmen geliebt, so viel gelernt und viele Freunde gefunden. Das war meine Leidenschaft.

Das Gespräch führte

Alexander Petri.