Kommentar
Die Dosis macht das Gift

09.07.2019 | Stand 23.09.2023, 7:42 Uhr

So nah war der Amateursport den Profiathleten noch nie: Mit der groß angelegten Anti-Doping-Razzia in 33 Ländern haben die Ermittler erstmals eine Ahnung davon vermittelt, welch große Dimensionen das Problem Doping im Breitensport haben könnte.

1000 angezeigte Personen, 839 Strafverfahren, 17 zerschlagene kriminelle Gruppen, 9 trockengelegte Untergrundlabore - die "Operation Viribus" zeigt, wie verlockend Dopingsubstanzen wie Steroide oder Anabolika auch für Hobbysportler sind.

Auch wenn DOSB-Präsident Alfons Hörmann positive Auswirkungen auf Profi- und Breitensport vermutet, die Erkenntnis dieser Aktion geht viel tiefer: 3,8 Millionen vor allem für Amateursportler vorgesehene Dopingmittel sagen deutlich mehr über unsere Gesellschaft und deren Werte aus, als über den Sport.

Wenn Spitzensportler dopen ist das immer Betrug, manchmal aber rational erklärbar. Wer in solch prekären Verhältnissen aufwächst, dass nur der bezahlte Sport ein Ausweg ist, der wird diesen Weg allein des Überlebenstriebes wegen einschlagen. Ein Blick in andere Berufsfelder zeigt: Um Einkommen zu sichern oder zu steigern, gehen viele Arbeitnehmer an und über moralische oder gesundheitliche Grenzen.

Nun geht es aber um Breitensport. Hier wird kein Geld verdient, mit dem Wohnraum bezahlt oder eine Familie ernährt wird. Es geht ums Ego. Darum, in einem Landesliga-Fußballspiel ein bisschen schneller als der Gegner zu sein. Oder darum, fünf Klimmzüge mehr zu schaffen als der andere lebende Einbauschrank im Fitnessstudio. Und das scheint dem Menschen etwas zu geben. So viel, dass er bereit ist, sich selbst zu schaden. Das ist kein Problem des Sports, sondern eines unserer Wertevermittlung.

Denn natürlich ist es erstrebenswert, gut zu sein und besser werden zu wollen. Aber es hat sich das Bild verfestigt, dass nur zählt, der Beste zu sein. Menschen tragen T-Shirts auf denen "Trainieren, Essen, Schlafen, Wiederholen" steht. Ein Wunder, dass es Essen auf die Liste geschafft hat. Solche Werte verwandeln eine Leistungsgesellschaft in eine Hochleistungsgesellschaft, die normale Leistungen geringschätzt.

Wie bei allem aber macht die Dosis das Gift. Wenn wir nicht erkennen, dass es in Ordnung ist, nicht immer und überall der Beste sein zu müssen, dann wird aus diesem grenzenlosen Leistungsstreben eine Überdosis. Die "Operation Viribus" lässt vermuten, dass sich diese Sichtweise auf absehbare Zeit nicht durchsetzen wird.
 

Christian Missy