Schrobenhausen
Rauchende Schlote

21.09.2018 | Stand 02.12.2020, 15:37 Uhr
Selbstbewusste Aufbruchstimmung: Den Briefkopf der Firma Leinfelder zieren im 19. Jahrhundert Zeichnungen der Fabrikgebäude mit ihren rauchenden Schloten (unten). Und die Arbeiterinnen und Arbeiter der Firma Poellath setzen sich beim Gruppenbild im Jahr 1905 elegant in Szene (oben). −Foto: Stadtarchiv Schrobenhausen

Schrobenhausen (DK) In Schrobenhausen setzte die Industrialisierung früher als in anderen Städten ein: Ein Interview mit dem Historiker Max Direktor über wirtschaftliche Entwicklungen im 19. Jahrhundert.

Herr Direktor, unser Thema ist die Industrialisierung Schrobenhausens im 19. Jahrhundert.Schauen wir aber erst in die Zeit davor. Im 15. Jahrhundert erhält Schrobenhausen das Stadtrecht. Welche Gewerbearten sind im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit dort zu finden?

Max Direktor: Die typischen vorindustriellen Gewerbe, also mehrere Bäcker, Metzger, Schuhmacher, Leineweber, Maurer, Schreiner, Zimmerer, Glaser, Hafner, Seiler, Schäffler, Hufschmiede, Wagner, Färber, Gerber, natürlich Bierbrauer und Wirte und noch eine Reihe seltener Berufe. Fast alle produzierten nur für die Stadt und das nähere Umland. Dabei ist auch ein Nadler, ein Papiermüller und ein Kupferschmied, aus denen sich im 19. Jahrhundert größere Betriebe entwickeln sollten.

War Schrobenhausen demnach eine reiche Stadt?

Direktor: Ob eine Stadt reich oder arm ist, kann man - wie heute auch - nicht so leicht beantworten. Insgesamt dominieren wie in vielen Städten Kleinhandwerk und Kleingewerbe, daneben gibt es eine kleine reiche Oberschicht, auch manche Bierbrauer gehören dazu. An der Wende zum 19. Jahrhundert waren die meisten bayerischen Städte eher arm. Das hat unterschiedliche Ursachen, eine wichtige Rolle dabei spielten sicher auch die drei Kriege, die das Land innerhalb eines Jahrhunderts überzogen hatten und Städte und Bürger auszehrten.

Im 19. Jahrhundert nun setzt die Industrialisierung ein. Auch in Schrobenhausen. Welche Betriebe sind hier vor allem zu nennen?

Direktor: Eigentlich beginnt die Industrialisierung in Schrobenhausen mit dem aus Landshut stammenden Nadler Carl Poellath, der eine Schrobenhausener Nadlerwerkstätte übernahm. Im Jahr 1824 machte er eine Erfindung, nämlich wie man kleine Metallwaren wie Knöpfe, Schurz- und Miederhaken sowie Verzierungen, die man bisher mühsam im Gussverfahren herstellen musste, mit Schlagwerk beziehungsweise Prägepressen deutlich einfacher herstellen konnte. Er begründete damit seine Knopf- und Fasswarenfabrik. Später erkannte er einen neuen Markt, stellte religiöse Artikel aller Art her und nannte seinen Betrieb Devotionalienfabrik. Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Firma Geschäftskontakte in allen Erdteilen - eine logistische Meisterleistung.
Noch deutlich expansiver und bestimmender wurde die Papierfabrik Leinfelder. Im Jahr 1847 kaufte Michael Leinfelder die alte städtische Papiermühle, deren Geschichte im 16. Jahrhundert beginnt. Sein Sohn Georg Leinfelder übernimmt die Papiermühle zwölf Jahre später. Er erkannte die Zeichen der Zeit: Bisher war Papier aus Hadern, abgetragenen Kleidungsstücken, hergestellt worden, in den 1840er-Jahren war die Papierherstellung aus Holzschliff, das ist fein zerfasertes Holz, erfunden worden. Georg Leinfelder installierte im Jahr 1869 eine Papiermaschine auf der Basis dieses neuen Werkstoffs und hatte unvorstellbaren Erfolg. Er hatte mit wenigen Gesellen angefangen, im Jahr 1900 bereits rund 150 Beschäftigte und war damit die mit Abstand größte Industriefirma in Schrobenhausen.
Diese zwei Firmen gibt es heute noch, nämlich das Münz- und Prägewerk Carl Poellath und die Papierfabrik LEIPA Georg Leinfelder. Weiter gründeten sich 1890 noch das Dampfsägewerk Prücklmair und 1894 die kleine Korkfabrik Fischer. Die Firma Bauer, die sich aus einer Kupferschmiede entwickelt hat, nimmt im 19. Jahrhundert einen stetigen Aufschwung, der ganz große Durchbruch zur Firma Bauer Spezialtiefbau mit heute rund 11.000 Beschäftigten in 70 Ländern kommt jedoch erst Mitte des 20. Jahrhunderts.

Wie muss man sich solche Betriebeim 19. Jahrhundert vorstellen? Sicher schmutziger und lauter als heute, oder?

Direktor: Der rauchende Schlot ist ein Zeichen, dass es hier Arbeit gibt, er ist Zeichen des Fortschritts und auch auf den Briefköpfen der Firmen zu finden. Problematisch für die Gesundheit und Umwelt waren auch die Abwässer, die den kleinen Fluss Paar belasteten, oder die chemischen Abfälle verschiedener Betriebe. Der Schutz der Arbeiter steckte im 19. Jahrhundert erst in den Kinderschuhen, die Verbesserung der Arbeitsbedingungen musste mühsam erkämpft werden.

Solche Betriebe brauchen Arbeiter, aber auch ein Management. Woher rekrutiert sich dieser Personenkreis?

Direktor: Arbeiter kommen aus der Stadt, aber auch aus den umliegenden Gemeinden. Auch Frauen wurden in Fabriken beschäftigt - im Gegensatz zu den kleineren Handwerksbetrieben. Für die Papierfabrik Leinfelder besitzen wir für das Jahr 1879 eine genaue Aufstellung: Beschäftigt sind 18 Arbeiter und 25 Arbeiterinnen, rund die Hälfte aus Schrobenhausen, die restlichen fast ausschließlich aus den umliegenden Dörfern. Die Zahl der Angestellten ist noch überraschend klein. Der kaufmännische Leiter der Papierfabrik kam von auswärts. Ansonsten erledigte der Unternehmer viele Aufgaben selbst. Ähnliches gilt auch für spätere Zeiten und andere Firmen.

Lief die Industrialisierung im Vergleich zu anderen bayerischen Landstädten schneller oder intensiver ab?

Direktor: Die Industrialisierung in Schrobenhausen begann - verglichen mit ähnlichen Kleinstädten in Bayern - sehr viel früher und gewann sehr viel mehr Bedeutung. Wir finden um 1900 einen großen und drei kleinere Industriebetriebe in Schrobenhausen - das bei einer Einwohnerzahl von knapp über 3000, das gibt es nicht oft in Bayern.

Kennt man die Gründe dafür?

Direktor: Interessant ist, dass sich die zwei ältesten Industriebetriebe aus kleinen Handwerksbetrieben entwickeln. Der Sprung zum Industriebetrieb erfolgte durch die Nutzung neuer Erfindungen und die Nutzung neuer Technologien. Das ist im 19. Jahrhundert noch die Dampfmaschine. Die Papierfabrik nutzt die Wasserkraft der Paar auch bereits zur Stromerzeugung. Dazu ließ Georg Leinfelder auf eigene Kosten einen fünf Kilometer langen Kanal bauen, der vom Wasser der Paar gespeist wird. Eine große Bedeutung für die Industrialisierung hat sicher die Eröffnung der Schrobenhausener Bahnstation im Jahr 1875, die den überregionalen Vertrieb für alle in Schrobenhausen ansässigen Betriebe erleichtert oder erst ermöglicht. Genauer könnte man die Frage aber erst dann beantworten, wenn man die Rahmenbedingungen in verschiedenen Städten untersucht. Es wäre eine sehr reizvolle historische Arbeit, die Industriegeschichte der Städte in der Region Ingolstadt im 19. Jahrhundert zu vergleichen.

Es folgte wohl eine umwälzende Veränderung der Stadt Schrobenhausen. Können Sie diese genauer beziffern?

Direktor: Innerhalb eines Jahrhunderts wandelt sich Schrobenhausen von einer kleinen Landstadt in eine Stadt - ich würde sagen - mit deutlich spürbarem industriellen Charakter. Die Stadt bleibt jedoch Zentrum für die umliegende bäuerliche Bevölkerung. Aus Gesellen und Tagelöhnern werden Arbeiter. Eine Statistik des Jahres 1939 - vorher lassen sich kleinere Kommunen statistisch in dieser Hinsicht schwer vergleichen - zeigt, dass in Schrobenhausen über 51 Prozent der Erwerbstätigen in Industrie und Handwerk beschäftigt sind, das ist der drittgrößte Anteil der Städte Oberbayerns. Eine starke Arbeiterschaft - verbunden mit einer stark katholischen Prägung der Stadt - sorgte auch dafür, dass die Stimmenzahl für die Nationalsozialisten in Schrobenhausen vor 1933 weit unterm Reichsdurchschnitt lag. Ungewöhnlich auch, dass die SPD mit Fritz Stocker, der unter der Berufsbezeichnung "Industriearbeiter" kandidierte, von 1945 bis 1967 unangefochten den Ersten Bürgermeister der Stadt stellte.

Wenn man sich das Thema mal vor Augen führen will - kann man heute noch industrielle Relikte aus dieser Zeit sehen oder gar besichtigen?

Direktor: Spektakuläres an Fabrikgebäuden aus dem 19. Jahrhundert wird man heute nicht mehr finden. Sehr interessant ist das Wohnhaus des Fabrikanten Georg Leinfelder an der Aichacher Straße, das von Gabriel von Seidl im Jahr 1903 entworfen, später jedoch verändert wurde. Das Stadtmuseum besitzt zahlreiche Exponate vor allem der Firma Poellath, es wird derzeit allerdings umstrukturiert. Bei einem schönen Spaziergang durch die Paar-Auen von Schrobenhausen nach Hörzhausen sehen wir noch den "Leinfelderkanal", der in den 1880er-Jahren angelegt wurde, um das Wasser der Paar für die Papierfabrik besser nutzen zu können.

Das Interview führte Markus Schwarz.