Ingolstadt
"Strafrechtliche Prozesse können noch kommen"

Abgas-Skandal: US-Rechtsexperte Kirk Junker über die nächsten Schritte im juristischen Verfahren gegen Volkswagen

24.11.2016 | Stand 02.12.2020, 19:00 Uhr

Ingolstadt (DK) Für den Ingolstädter Autobauer Audi steht im Zuge der Abgas-Affäre am 30. November in den USA wieder ein wichtiger Gerichtstermin an. Dann wird sich wohl endgültig entscheiden, ob die Amerikaner den Rückrufplan für die 3,0-Liter-Fahrzeuge genehmigen. Professor Kirk Junker (Foto) ist Inhaber des Lehrstuhls für US-amerikanisches Recht an der Universität Köln. Wir haben mit dem Experten im Vorfeld des Gerichtstermins gesprochen.

Herr Junker, verfolgen Sie eigentlich den VW-Prozess?

Kirk Junker: Selbstverständlich. Für mich ist dieser Fall ein Geschenk. Er eignet sich perfekt für meinen Unterricht in den Fächern Umweltrecht und Zivilprozessrecht.

 

Bei Unternehmen in den USA ist die Sammelklage gefürchtet. Was verbirgt sich hinter diesem Begriff?

Junker: Was hierzulande in den Medien oft als Sammelklage bezeichnet wird, heißt in den USA "class action". Diese kommt zustande, wenn ein Betroffener mit seinem Problem zu einem Anwalt geht und dieser nach Erörterung des Sachverhaltes es für möglich hält, dass es eine Vielzahl in gleicher Weise betroffener Personen geben kann. Der Anwalt muss dann das Gericht ersuchen, das Vorliegen einer "class" gerichtlich zu bestätigen. Liegt diese gerichtliche Bestätigung vor, kann der Anwalt beginnen eine "class action" aufzubauen.

 

Und wie funktioniert das?

Junker: Die Teilnahme an einem solchen Zivilverfahren ist dann sehr einfach: Sie werden von dem Anwalt angeschrieben, der ihnen mitteilt, dass er eine "class action" gegen ein bestimmtes Unternehmen vertritt. Und dann werden Sie gefragt, ob Sie teilnehmen wollen. Sie müssen eigentlich nicht vielmehr tun, als zuzustimmen. Deswegen ist die Mehrheit der Teilnehmer an einer solchen "class action" eher passiv, die "class action" wird von der jeweiligen Anwaltskanzlei für alle Teilnehmer geführt.

 

Aber woher weiß eine Anwaltskanzlei, dass ich einen VW besitze?

Junker: Im US-Zivilrecht gibt es ein Verfahren, das im deutschen Zivilrecht nicht existiert: Es nennt sich "Discovery". Wenn man jemanden verklagt, dann darf der Vertreter der Klägerseite dem Beklagten vorab Fragen stellen. So kann ein Kläger schon vor dem Gerichtsprozess herausfinden, was sein Gegner weiß. Und so können sie als Kläger VW beispielsweise einfach fragen: "An wen haben Sie zwischen 2008 und 2013 ein Auto mit einem 2,0-Liter-Dieselmotor verkauft"

 

Und dann muss der Beklagte diese Informationen mitsamt den Adressdaten der Kunden herausgeben?

Junker: Ja.

 

Ende Oktober hat VW in den USA einen Vergleich für die Fahrzeuge mit 2,0-Liter-Motor geschlossen, der den Konzern rund 15 Milliarden US-Dollar kostet. Warum ist dieser Vergleich so etwas Besonderes?

Junker: Das Außergewöhnliche an diesem Vergleich ist, dass er sozusagen drei mögliche Klägerparteien unter einem Hut zusammenfasst: Das sind zum einen die Privatkläger, dann ist da die Federal-Trade-Commission und als Dritte im Bunde die Umweltbehörde. Vermutlich war dieses Vorgehen ein Wunsch von Volkswagen. So muss nicht alles dreimal durchlaufen werden.

 

Was vor allem ein zeitlicher Vorteil ist. Je länger sich die Sache zieht, desto ungünstiger ist es ja für das Unternehmen.

Junker: Natürlich. In den Monaten, in denen der Prozess lief, hat Volkswagen praktisch indirekt mit Verlusten bei seiner Börsenbewertung bezahlt.

 Bei diesem Vergleich taucht auch immer wieder der Begriff "Statement of Facts" auf. Worum handelt es sich dabei?

Junker: Sie müssen sich den Vergleich wie einen Vertrag vorstellen, das "Statement of Facts" gibt den Vertragsinhalt wieder, der den Vergleich einschränkt. Wenn Volkswagen die Kläger beispielsweise für 2,0-Liter-Motoren entschädigt und dies im "Statement of Facts" festgehalten wird, dann gilt das eben exakt nur für diese Motoren. Wenn sich nächstes Jahr herausstellt, dass weitere Motoren betroffen sind, dann gilt der Vergleich dafür nicht.

 

Der Vergleich gilt als der große Durchbruch. Aber ganz aus dem Schneider ist Volkswagen ja noch nicht - was kann juristisch in den USA noch auf den Konzern zukommen?

Junker: Privatleute, die nicht bei der Sammelklage mitgemacht haben, haben noch sechs Jahre lang die Möglichkeit, alleine vor Gericht zu ziehen. Ob das überhaupt jemand macht, und wie viele es dann sind, ist schwer zu sagen. Was auf jeden Fall noch kommen kann, sind strafrechtliche Prozesse.

 

Und was glauben Sie, kommt strafrechtlich auf Volkswagen zu?

Junker: Wenn Sie die ersten Seiten des Vergleichs lesen, dann werden Sie sehen, dass sehr wichtig ist, was die Hersteller eingeräumt haben: Die technischen Manipulationen sind nicht unabsichtlich zustande gekommen - es wurde absichtlich gemacht, um zu betrügen. Und das ist genug, um dies als eine Straftat gegebenenfalls anzuklagen.

 

Wie ist Ihre Einschätzung: Werden beispielsweise Ex-VW-Chef Martin Winterkorn oder Audi-Chef Rupert Stadler in den USA strafrechtlich belangt werden?

Junker: Das kann sein. Ein Hinweis darauf ist, dass das US-Justice-Department nicht ausgeschlossen hat, eine Straftat anzuklagen. Deswegen wird das vielleicht passieren. Normalerweise gibt es nämlich gleichzeitig mit dem Vergleich eine Pressekonferenz, auf der man verkündet: Wir, die US-Behörden, sind mit allem fertig - doch das ist nicht passiert. Die Behörden haben sich vorbehalten zu beobachten, ob VW die im Vergleich vereinbarten Maßnahmen durchführt.

 

Werden solche Strafrechtsprozesse nur die Chefetage treffen oder kann tatsächlich auch ein Entwickler der Software zur Rechenschaft gezogen werden?

Junker: Ja, das ist auch möglich. Beispielsweise hat sich bereits am 9. September 2016 der VW-Ingenieur James Robert Liang der Teilnahme am Betrug als schuldig bekannt.

 

Was kann auf die Personen zukommen? Geldstrafen? Wie wahrscheinlich sind Haftstrafen?

Junker: Liang kann mit einer Haftstrafe bis zu fünf Jahren bestraft werden.

 

Das Gespräch führte

Sebastian Oppenheimer.