Allensbach
Jedes Prozent zählt

Hier werden Wahlprognosen gemacht: Ein Besuch bei den Meinungsforschern des Allensbach-Instituts

21.08.2013 | Stand 02.12.2020, 23:45 Uhr

 

Allensbach (DK) Es sind nur ein paar Schritte vom Ufer des Bodensees bis zum Allensbach-Institut. Gleich hinter der St.-Nikolaus-Kirche steht an der Hauptstraße ein Haus aus dem 17. Jahrhundert. Hier im Institut für Demoskopie (IfD) weiß man, wie Deutschlands Wähler denken.

 Das IfD zählt zu den führenden Meinungsforschungsinstituten der Republik. Manche nennen es auch das „Orakel vom Bodensee“. Doch wer einen Tempel erwartet, in dem die Macht der Zahlen zelebriert wird, sieht sich enttäuscht. Hinter dem alten Fachwerkhaus mit seinen rot gestrichenen Balken stehen zwei weiß verputzte Anbauten. Der Komplex ist durch verwinkelte Treppenhäuser und Gänge miteinander verbunden. An den Wänden hängen keine Diagramme, sondern gerahmte Landschaftsgemälde. Und beim Mobiliar finden sich zwischen der modernen Büroeinrichtung immer wieder alte Schränke oder historische Wanduhren.

 In dem 1947 von Elisabeth Noelle-Neumann gegründeten Institut, das heute von Renate Köcher geleitet wird, arbeiten knapp hundert Menschen – ein Drittel davon sind Wissenschaftler. Ganz oben im mittleren Anbau ist das Büro von Michael Sommer. Der Politologe sagt: „Ich gehe davon aus, dass Angela Merkel Bundeskanzlerin bleibt.“ Aber das ist nur seine ganz persönliche Meinung. Beruflich sieht er die Sache anders. Der 44-Jährige arbeitet als Projektleiter beim Allensbach-Institut und betreut auch politische Umfragen – und in seiner Rolle als Demoskop bleibt er vorsichtig und sagt: „Das Rennen ist offen.“ Bis zum Wahltag könne noch viel passieren.

 Wenn Sommer aus dem Fenster blickt, kann er hinter dem Kirchturm den Bodensee sehen. Seine Kollegen in der Fragebogen-Abteilung haben diese Aussicht nicht. Vom zweiten Stock des Fachwerkhauses, wo Andreas Fischer, Julian Wangler und Anika Cermak arbeiten, kann man nur die gegenüberliegenden Gebäude sehen. Die drei sitzen zusammen an einem großen Schreibtisch aus Naturholz, auf dem zwischen Computer-Monitoren und einem Laptop dicke Papierstapel liegen: die Allensbach-Fragebögen. Sie enthalten rund 75 Fragen, dazu noch Zusatzmaterial auf blauem, grünem oder gelbem Papier für die Interviewer. Das ist die Spezialität des Hauses: Als Einziges der großen Meinungsforschungsinstitute setzt das IfD auf ein über ganz Deutschland verteiltes Heer von nebenberuflichen Fragestellern, die ihre Interviewpartner – oft aus dem erweiterten Bekanntenkreis – zu Hause aufsuchen und dort in einem persönlichen Gespräch löchern.

Bei den meisten Fragen geht es übrigens gar nicht um Politik. Denn Wahlprognosen machen bei dem Institut nur einen kleinen Teil des Geschäfts aus. Sozial- und Marktforschung bringen mehr ein. Wenn die Interviewer losgeschickt werden, erheben sie deshalb mit einer einzigen Umfrage Daten zu ganz unterschiedlichen Themen. Es kann also sowohl um die Zufriedenheit mit der Kanzlerin wie um die Zufriedenheit mit dem Telefonanbieter gehen. Bis alles abgefragt ist, vergeht leicht eine Dreiviertelstunde. „Wir mischen die Fragen, damit es nicht langweilig wird“, sagt Wangler vom Fragebogen-Team. „Abwechselung ist Trumpf.“

 Die meisten anderen Institute – wie etwa Emnid oder Forsa – arbeiten mit Telefonumfragen. In der Regel werden rund 1000 nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Bürger befragt. Die Allensbach-Interviewer werden dagegen mit Quotenvorgaben losgeschickt, was Alter, Geschlecht oder Beruf der Befragten angeht. Dadurch soll die Stichprobe die Struktur der Gesamtbevölkerung möglichst genau widerspiegeln, also repräsentativ sein.

 Sind die Daten erst einmal erhoben, ist die Arbeitsweise der Institute wieder ganz ähnlich: Jetzt werden die Zahlen überarbeitet, erst dann wird das Ergebnis der Sonntagsfrage („Wenn am Sonntag gewählt würde...“) veröffentlicht. Kritiker werfen den Demoskopen nicht nachvollziehbare Zahlenspielereien vor, doch die wehren sich: „Bei uns wird nicht manipuliert oder geschönt“, sagt Allensbach-Statistikchef Heinz Behme. Es gehe nur darum, „möglichst nah an das tatsächliche Ergebnis zu kommen“.

 Die Antworten der Befragten sind für die Demoskopen der Rohstoff, aus dem sie mithilfe statistischer Formeln plausible Umfragen machen. Der Fachausdruck dafür heißt „Gewichtung“. Zunächst werden die Rohdaten daraufhin überprüft, ob sie wirklich repräsentativ sind. Liegen etwa mehr Antworten von Männern vor, obwohl deren Anteil an der Wahlbevölkerung 49 Prozent beträgt, gleichen die Meinungsforscher das durch eine veränderte Gewichtung aus. Solche Eingriffe seien aber marginal, sagt Behme. „Die veröffentlichten Werte unterscheiden sich kaum von den tatsächlich erhobenen.“

Schwierigkeiten bereitet den Demoskopen, dass viele Bürger noch nicht genau wissen, ob und wen sie wählen werden. „Die Leute entscheiden sich immer später und wählen spontaner“, sagt Behme. Bis zu 30 Prozent der Wähler legen sich erst kurz vor dem Urnengang fest. Trotz der abnehmenden Parteienbindung können Behme und seine Kollegen die Unentschlossenen mithilfe bestimmter Parameter politischen Lagern zurechnen. Dazu nutzen die Meinungsforscher ihre Erfahrungswerte, anhand derer sie die Angaben der Befragten gewichten – etwa, welche Parteien für sie überhaupt infrage kommen. „Wenn jemand die Union am sympathischsten findet, wird er kaum am Ende die Linken wählen“, sagt Behme.

Eine Wahlurne gibt es übrigens auch im Allensbach-Instititut: Eine aus Holz gezimmerte Kiste hängt im engen Flur hinter der Tür des Fachwerkhauses. „IfD-Toto“ steht neben dem Einwurfschlitz. Hier können die Mitarbeiter tippen, wie ausgewählte Umfragen des Hauses ausgehen. Michael Sommer hat schon öfter gewonnen. Von den 25 Euro Preisgeld ist er dann mit seiner Familie Eis essen gegangen. „Man lernt aber auch, wie weit man danebenliegen kann“, sagt Sommer. Im September geht es beim hausinternen „IfD-Toto“ wieder um den Ausgang der Bundestagswahl. Wenn Merkel Kanzlerin bleibt, können Sommers Töchter auf ein Extra-Eis hoffen.