Viele offene Fragen

Von Wolfgang Weber

11.07.2018 | Stand 02.12.2020, 16:05 Uhr

Nach einem quälend langen Verfahren hat das Oberlandesgericht München sein Urteil gegen Beate Zschäpe und vier NSU-Helfer gefällt und damit einen vorläufigen Schlussstrich unter eine Verbrechensserie gezogen, die als entsetzliche Reaktion von verwirrten Terroristen gesehen werden kann.

Nämlich auf die nicht nur in Deutschland zunehmend grassierende Fremdenfeindlichkeit. Egal ob Zuwanderer, Asylsuchende oder Flüchtlinge, sie alle gelten vielen inzwischen als Bedrohung, die es abzuwehren gilt. Der Verrohung der Sprache folgt dabei eine Verrohung des Umgangs bis hin zu Gewalttätigkeiten mit dem traurigen Höhepunkt der NSU-Morde. Das Münchner Gericht hat sich alle Mühe gegeben, diese Taten rechtsstaatlich einwandfrei aufzuarbeiten. So gesehen war der lange Prozess ein guter Prozess.

Dennoch hinterlässt er einen Nachgeschmack. Schließlich hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel vor Jahren versprochen, dass alles getan werde, um nicht nur die Morde aufzuklären, sondern auch alle Helfer und Hintermänner ans Licht zu bringen. Im Münchner NSU-Prozess ist das nicht geschehen. Dafür sorgte die Bundesanwaltschaft, die sich in ihrer Verhandlungsführung früh auf eine nur wenig erweiterte Drei-Täter-Theorie festlegte. Die möglicherweise entscheidende Beteiligung lokaler Neonazi-Netzwerke an den Verbrechen sollte keine Rolle spielen. Dabei hatten Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz 2013 an die 130 mögliche NSU-Unterstützer ausgemacht, andere gingen sogar von mindestens 200 aus.

Auch ein anderer wichtiger Komplex blieb in München auf der Strecke: Das Versagen von Polizei und Verfassungsschutz. Schließlich wurden Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nie gefasst, sondern tot aufgefunden und Beate Zschäpe stellte sich selbst - nach zehn Morden, zwei Bombenanschlägen und 15 Raubüberfällen. Sechs Jahre lang wurden quer durch die Republik unbescholtene Männer mit immer derselben Pistole erschossen, die nichts verband, außer ihrem Migrationshintergrund. Und der Polizei fiel nichts ein, als Bandenkriege unter Ausländern zu vermuten und die Täter im Umfeld und in den Familien der Ermordeten zu suchen. Währenddessen finanzierten Verfassungsschutzämter über ihre V-Leute Neonazi-Gruppen, die wohl auch das NSU-Trio stützten, und verhinderten durch das Zurückhalten von Informationen deren frühzeitiges Auffliegen.

Einig waren sich Polizisten und Verfassungsschützer übrigens stets darin, dass die Verbrechen unmöglich terroristischen Hintergrund haben können, da es keine Bekennerschreiben gab. Dass seit den 90er-Jahren Anleitungen in der Naziszene kursieren, solche Selbstbezichtigungen - anders als einst die RAF - zu unterlassen, war den Extremismus-Experten angeblich entgangen.

Nach dem eklatanten Versagen gegenüber dem rechten Terror begann in den Behörden umgehend das große Vertuschen. Beamte konnten sich plötzlich nicht mehr erinnern und Akten waren nicht mehr auffindbar. Nun sind in unserem Rechtsstaat für solche Fälle unabhängige Aufklärer vorgesehen. Neun parlamentarische Untersuchungsausschüsse sollten denn auch Licht in den Skandal bringen. Das Resultat: Entsetzen und kein einziges Verfahren etwa wegen Strafvereitelung im Amt.

Aber auch interne Untersuchungen in den Sicherheitsbehörden gab es. So beispielsweise im Zusammenhang mit dem hessischen Verfassungsschützer, der während der Ermordung von Halit Yozag in dessen Kassler Internetcafé anwesend war, aber rein gar nichts mitbekommen haben wollte. Was bei der Untersuchung herauskam, darüber lässt sich allerdings nur spekulieren, denn der Bericht erhielt eine Sperrfrist von 120 Jahren. Vielleicht ist dann die Zeit für die versprochene rückhaltlosen Aufklärung des NSU-Komplexes.