Kommentar
Eine Zeitenwende

Ein Kommentar von Christian Tamm

05.06.2019 | Stand 02.12.2020, 13:48 Uhr

Heute vor 75 Jahren landeten die Alliierten an der Nordküste Frankreichs, das damals von den Deutschen besetzt war.

Es war das Jahr 1944, und die europäischen Völker litten unter einem unmenschlichen Krieg. Ab jenem 6. Juni stand die Nazi-Diktatur nicht nur im Osten, sondern auch an der Westfront unter Druck - das Ende des Dritten Reichs war besiegelt. Und so gilt dieser Tag auch als einer der Ausgangspunkte für ein neues Europa - für ein demokratisches.

Der sogenannte D-Day war nicht weniger als eine Zeitenwende. Und die großen Feierlichkeiten gestern in Südengland, bei denen sich sogar die 93-jährige Queen für Veteranen applaudierend von ihrem Stuhl erhoben hat, verdeutlichen erneut, dass Frieden keine Selbstverständlichkeit ist. Europa erlebt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Phase der Sicherheit und des Wohlstands. Kooperation miteinander, Verständnis füreinander und Respekt voreinander haben teils Jahrhunderte alte Konflikte und Feindschaften abgelöst.

All das geht auch auf den
Tag zurück, an dem die Alliierten in der Normandie anlandeten. Daher muss es traurig stimmen, dass diese Errungenschaften bedroht sind wie nie zuvor. Denn dieser Tage wird vielerorts kräftig am Friedensprojekt Europa gerüttelt. Die EU wird zu oft auf ihre Defizite reduziert. Dass die Gemeinschaft ihre Schwächen hat, vielleicht zu schnell gewachsen ist und in vielen Punkten einer Überarbeitung bedarf, verneinen selbst glühende Europäer nicht. Auch die Brüsseler Bürokratie muss nicht jeder gut finden. Dennoch ist die Europäische Union weiter der entscheidende Garant dafür, dass in Europa geredet wird - und eben nicht mehr geschossen.

Auch dass sich ausgerechnet Großbritannien von Europa abwenden will und mit Donald Trump ein US-Präsident den Feierlichkeiten beiwohnte, der Europa eher als wirtschaftlichen Feind denn als politischen Freund begreift, beschädigt das Jubiläum. Umso wichtiger ist, dass sich die Staaten Europas - allen voran die einstigen Erzfeinde Deutschland und Frankreich - heute darauf besinnen, durch welch schwere Zeiten der Kontinent gegangen ist.