Kristina Vogel: "Ich habe Bock auf Leben, ich habe Bock auf Lachen"

Interview des Monats mit dem willensstarken Ex-Bahnrad-Star

24.07.2020 | Stand 23.09.2023, 13:06 Uhr
Kristina Vogel bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio. −Foto: Kästle (dpa)

2012 und 2016 wird Kristina Vogel Olympiasiegerin, im März 2018 krönt sich die Erfurterin mit ihrem elften WM-Titel zur erfolgreichsten Bahnradsportlerin der Welt. Wenige Wochen später ist sie nach einem Trainingsunfall querschnittsgelähmt. Ihre Karriere musste sie beenden – ihre Stärke und Willenskraft dagegen verlor die 29-Jährige nie.

Frau Vogel, am Freitag hätten die Olympischen Spiele in Tokio begonnen. Sie gewannen 2012 Gold im Teamsprint und  2016 im Sprint. Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre beiden Olympia-Siege?

Kristina Vogel: Die beiden Goldmedaillen sind total unterschiedlich. 2012 waren Miriam Welte und ich doch irgendwie Underdogs. Klar waren wir gerade frisch Weltmeister geworden, aber wir hatten es uns nicht zugetraut, Olympiasieger werden zu können – vor allem in einer Disziplin, die zum allerersten Mal olympisch war. Das war ein totaler Überraschungssieg und auch ganz emotional für uns beide. 2016 war es für mich anders, weil ich in der Welt schon gejagt war, es hatte jeder erwartet, dass ich Gold gewinne. Da fiel ein großer Druck ab, es war die Bestätigung, dass ich es geschafft habe. Und dann natürlich die Geschichte mit dem Sattel – da wird eine Olympiasieger im Fahrradfahren ohne Sattel!

Sieg ohne Sattel

Das Rennen verlief äußerst dramatisch: Im entscheidenden Zielsprint brach Ihr Sattel, am Ende hatten Sie vier Tausendstel Vorsprung. Hatten Sie überhaupt realisiert, dass Sie Gold gewonnen hatten?

Vogel: Ich habe das bestimmt erst eine halbe Runde später realisiert. Ich hatte natürlich erst mal damit zu tun, nicht vom Fahrrad zu stürzen. Bei der Geschwindigkeit von über 60 km/h, die wir im Ziel haben, kann man nicht stehend fahren, weil die Trittfrequenz so hoch ist. Also musste ich gucken, dass ich auf dem Fahrrad bleibe. Dann dachte ich nach einer halben Runde: Wer hat denn eigentlich gewonnen? Muss ich jetzt noch mal in den Entscheidungslauf, oder habe ich gewonnen? Doch da dann mein Bundestrainer und mein Lebensgefährte schon total ausrasteten und rumsprangen, dachte ich: Ne verdammt, ich habe gewonnen – ohne Sattel! Das war ganz verrückt.

Es war der absolute Höhepunkt Ihrer Karriere. Doch wie fing alles an? Wie haben Sie die Leidenschaft für den Bahnradsport entdeckt?

Vogel: Am Anfang macht man ja Sachen, weil es die Freunde auch machen. Ich fand das ganz cool und habe dann gemerkt, dass es mir mehr Spaß macht und nach und nach das professionelle Umfeld drum gebastelt. Ich bin auf die Bahn gegangen und habe festgestellt: Ich bin echt talentiert. Also ging ich auf die Sportschule. Es gibt viele, die die Sportart beginnen und sofort sagen: „Ich will Olympiasieger werden.“ Für mich ging das step by step – mal Landesmeister, mal Deutscher Meister, und dann irgendwann mal der große Traum von Olympia.

Ihre beeindruckende Karriere endete am 26. Juni 2018 nach einer Kollision mit einem niederländischen Sportler beim Training in Cottbus. Welche Erinnerungen haben Sie an diesen Tag?

Vogel: Noch ziemlich viele. Ich weiß, dass es ein ganz normaler Trainingstag auf der Radrennbahn war. Den Aufprall weiß ich nicht mehr, der war von Anfang an weg. Aber dann alle Prozesse nach und nach – wie ich merke, ich kann meine Beine nicht bewegen, und ich im Krankenhaus wach werde. 

Als Sie verletzt auf der Bahn lagen, nahmen Sie wahr, dass Ihre Schuhe weggetragen wurden, hatten aber das Ausziehen nicht gemerkt. Wie wichtig war es, dass Sie schon zu diesem Zeitpunkt realisierten, dass etwas nicht stimmen konnte, und der große Schock nicht erst kam, als Sie später im  Krankenhaus aus dem Koma erwachten?

Vogel: Ich glaube, wenn Athleten irgendwas gut können, dann in den Körper reinzuhören. Vielleicht war es für mich wichtig, mich schon mal bereitzumachen, dass das so ist. Also mich damit abzufinden, dass ich nicht mehr laufen kann. Daher war es, als ich aus dem Koma aufgewacht bin, eher nur: Okay, das ist Stand jetzt, und von da an gucken wir, wie wir weiterkommen. Ja, es gibt Sachen, die ich nicht ändern kann, also gräme ich mich damit nicht und hoffe, dass ich die Zukunft für mich gestalten kann.

Im Krankenhaus war Ihr Zustand teilweise kritisch. Sie kämpften mehrere Wochen um Ihr Leben. Wie hart war dieser Kampf?

Vogel: Das waren natürlich die schwersten Kämpfe, die ich in meinem Leben ausfechten musste. Tatsächlich stand es in der ersten Woche mit der Lungenentzündung, die ich noch bekommen hatte, so 50/50. Es war also schon sehr, sehr kritisch. Es ist schon verrückt, wenn im Kopf jemand sagt: „Jetzt los!“, und du sagst: „Ne, ich will nicht, ich will nicht!“ Das war schon schwer. Aber ich habe Bock auf Leben, ich habe Bock auf Lachen, und ich hatte einfach keinen Bock, dass es mir schlecht geht.

"Problem erkennen, Lösung suchen"

Hilft Ihnen Ihr früheres Leben als Spitzensportlerin, mit Ihrer Situation besser zurechtzukommen?

Vogel: Ich glaube, dass wir als Athleten es in unserer DNA haben, uns gut zu adaptieren. Also ein Problem zu sehen und sofort die Lösung zu suchen. Und zu wissen, dass es manchmal auch im Kraftraum oder auf dem Fahrrad richtige Schweinetage gibt, aber wenn man dranbleibt, der Erfolg schon kommt. Das hat mir geholfen, dranzubleiben. Ich wusste: Ich will mal eigenständig sein, dafür muss ich arbeiten.

Viele hadern mit ihrem Schicksal, Sie aber sagten: „Das Loch, das kam nie.“ Bis heute nicht?

Vogel: Nö. Warum muss es denn kommen? Man geht davon aus, dass man in so eine Verfassungskrise fallen muss, aber das muss man nicht. Klar hätte ich ein anderes Schicksal auch gewählt, aber ich kann es nicht ändern. Aber ich kann ändern, was daraus passiert. Deshalb gab es kein schwarzes Loch – es war nicht, ist nicht und kommt sicherlich auch nicht.

Ein Treffen mit dem Radfahrer, der den Unfall verursacht hat, haben Sie bisher abgelehnt. Wieso?

Vogel: Es war für mich bisher nicht die Zeit dafür. Er ist auch ein junger Mensch und muss das erst noch verarbeiten – ich natürlich auch. Ich gebe ihm keine Schuld, weil ich glaube, dass viel mehr Menschen daran schuld sind als er persönlich. Aber er ist natürlich die Personifizierung meines Unfalls, und ich war einfach nicht dazu bereit, so damit konfrontiert zu werden. Aber das ist eine Sache, die kommt irgendwann.

Auf Instagram kann man sehen, wie hart Sie trainieren. Es gibt ein Video, auf dem Sie mitsamt Ihrem Rollstuhl Klimmzüge machen. Woraus ziehen Sie diese Stärke?

Vogel: Ach, das war eigentlich ganz lustig. Ich hatte das mal auf Social Media gesehen. Wir wollten im Krafttraining irgendwas Cooles machen. Das war mehr ein Gag, aber das war natürlich dann auch cool, dass ich dieses Gewicht noch mit tragen konnte, denn der Rollstuhl wiegt auch zehn Kilo. Aber das ist es halt – ich mag Leben, ich mag Spaß haben, und ich habe mich selber auch immer herausgefordert. Das ist, glaube ich, in der DNA der Athleten, und das geht irgendwie auch nicht so richtig weg.

Eine Liste, viele Pläne

Sie haben nach Ihrem Unfall eine Bucket List erstellt und sind kürzlich zum ersten Mal auf einem Pferd geritten – mit der deutschen Reitikone Ingrid Klimke. Was war das für ein Erlebnis?

Vogel: Das war wahnsinnig schön. Ich hatte eine große Klappe und gesagt, ich will mal mit Ingrid Klimke reiten, ich glaube, die kann das ganz gut (lacht). Kann sie auch (lacht). Es war schön, die Beziehung zwischen Mensch und Tier festzustellen. Vor allem, dass sich das Tier ganz gut an mich anpassen kann. Am Anfang war es doch schon sehr hoch, so ein Pferd (lacht). Aber es hat so wahnsinnig Spaß gemacht, dass es funktioniert. Es hatte auch einen super Trainingseffekt. 

Welche weiteren Punkte auf Ihrer Liste haben Sie sich schon erfüllt?

Vogel: Ich habe ein Konzert besucht, durfte ein Boot der Bundespolizei taufen, das war sehr cool. Ich habe meine Schwester in Oldenburg besucht.

Ein Ziel: alle Hauptstädte Europas

Und was steht noch darauf?

Vogel: Viel mit Reisen, zum Beispiel möchte ich alle Hauptstädte Europas bereisen, wenn es wieder geht. Ich würde gerne mal Silvester in New York feiern. Also viel Freiheit und Spaß. Die Liste ist nicht fest, manchmal kommt noch was mit drauf. Das ist einfach eine Erinnerung, dass man sich Zeit für sich ganz persönlich nimmt. So eine Liste sollte jeder haben. Im Krankenhaus hatten mir die Krankenschwestern immer erzählt, was sie am Wochenende gemacht hatten. Und ich sagte immer: „Hm, das hab ich noch nie gemacht.“ Ich hatte halt immer nur Sport gemacht! So entstand die Liste. Dabei war die Leidenschaft zum Sport aber so groß, dass das für mich nie Verzicht gewesen war.  

Der Unfall passierte vor gut zwei Jahren. Sie sagten mal: „Ich sehe es momentan als sehr, sehr großes Privileg an, dass aus der Scheiße, die am 26. Juni 2018 passiert ist, so etwas Tolles entstanden ist.“ Wie haben Sie sich seitdem verändert?

Vogel: Viele sagen, ich bin erwachsener geworden – würde ich jetzt nicht sagen (lacht). Gut, ich werde dieses Jahr 30, vielleicht kann man da mal erwachsen werden, wer weiß? Ich glaube, ich habe realisiert, dass es okay ist, wenn man mal stolz auf sich ist. Ich bin mittlerweile stolz auf mich, was ich bisher erreicht habe. Das hat mich verändert, ja.

Was waren Ihre Highlights, Ihre Erfolge seit dem Unfall?

Vogel: Viele! Jeder Tag, an dem ich ein bisschen selbstständiger werde und meinen Weg einfach mache. Ich hatte das Jahr nach dem Unfall als „Jahr der ersten Male“ betitelt, einfach um zu gucken, wie das in einem Rollstuhl funktioniert, wie ich am besten klarkomme. Es gab auch Problematiken, Barrieren. Von daher kann ich jeden Tag irgendetwas haben, worauf ich stolz bin.

In den sozialen Netzwerken weisen Sie immer wieder auf Missstände in der Gesellschaft im Umgang mit Menschen mit Behinderung hin. Können Sie Ihre Bekanntheit dafür einsetzen, dass sich die Umstände für Menschen mit Behinderungen verbessern?

Vogel: Ich glaube, das Problem ist, dass viele gar keinen Angriffspunkt mit Menschen mit Behinderungen haben und deswegen Angst haben oder nicht aufgeklärt sind. Mir ging das ja im Prinzip auch so. Ich hatte schon immer paralympische Freunde, aber nie Rollstuhlfahrer. Dafür bin ich da, um aufzuklären, um diese Aha-Effekte zu vermitteln, damit Menschen einfach bewusster werden, die Augen aufbekommen. Manchmal ist barrierefrei zwar beispielsweise nett gemeint, aber wenn die Rampe einfach so steil ist, kann ich da nicht hoch- und runterfahren. Dass man so etwas bedenkt.

"Bin keine Leistungssportlerin mehr"

Sie sind äußerst umtriebig –  planen eine Trainerkarriere, sitzen im Erfurter Stadtrat, schreiben ein Buch, halten Motivationsvorträge.Planen Sie auch eine paralympische Sportkarriere?

Vogel: Nein, eigentlich nicht. Ich weiß, was es kostet, so erfolgreich zu sein, und das kann ich nur machen, wenn ich die Leidenschaft dafür habe. Ich bin der festen Überzeugung, ich kann nur 100 Prozent geben, wenn eine Leidenschaft dahinter ist. Dann ist es auch kein Verzicht, keine Arbeit. Ich habe auch die Sportart noch nicht gefunden, für die ich so brenne, wie ich noch immer für den Bahnradsport brenne. Und dann wäre ja meine sportliche Karriere sowieso irgendwann geendet, vermutlich nach den Olympischen Spielen in Tokio. Es gibt auch ein Leben nach dem Sport. Der Sport war immer wichtig für mich, ich mache auch gerne und regelmäßig Sport, aber als Leistungssportlerin sehe ich mich nicht mehr.

Das Interview führte Julia Pickl.

Zur Person

Name: Kristina Vogel

Geburtstag: 10. November 1990 in Leninskoje, Sowjetunion

Beruf: Ex-Bahnradsportlerin, Polizeihauptmeisterin

Größter Erfolg: Olympiasiegerin 2016 im Sprint und 2012 im Teamsprint, elffache Weltmeisterin

Gut zu wissen: Bereits 2009 hatte Kristina Vogel einen schweren Unfall, als sie während einer Trainingsfahrt auf der Straße von einem Kleintransporter erfasst wurde. Sie erlitt Brüche an der Halswirbelsäule, am Kiefer und an den Handwurzelknochen.  

Was sie sagt: „Am Jahrestag habe ich weniger den Unfall betrauert, sondern eher das gefeiert, was ich jetzt zwei Jahre lang alles geschafft habe.“ (über den zweiten Jahrestag ihrer Kollision)

Was man so hört: „Kristina ist unser bester Mann.“ (Bundestrainer Detlef Uibel  zum Gold-Coup Vogels in Rio.)

Julia Pickl