Ingolstadt
Jugendpsychotherapeutin hilft geflüchteten Jugendlichen

24.11.2019 | Stand 23.09.2023, 9:35 Uhr
Seenotretter vom Rettungsschiff „Alan Kurdi“ blicken zu einem Schlauchboot voller Flüchtlinge (Archiv). −Foto: Pavel D. Vitko/Sea-Eye/dpa

Ingolstadt (DK) Knapp 70.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind allein zwischen 2015 bis 2017 nach Deutschland gekommen. Viele von ihnen haben traumatische Erfahrungen gemacht und die psychische Belastung in dieser Gruppe ist hoch. Professionelle Hilfe ist schwierig in solchen Fällen zu finden. Aus diesem Grund hat der Lehrstuhl für Klinische und Biologische Psychologie der KU das Verbundprojekt „Better Care“ ins Leben gerufen. Im Interview erzählt Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Johanna Unterhitzenberger von ihre Arbeit mit unbegleitet geflüchteten Jugendlichen.

Frau Unterhitzenberger, auf der Webseite „Better Care“ schreiben Sie, dass zwar vielversprechende Präventions- und Therapieansätze existieren, aber nur wenige junge Flüchtlinge eine entsprechende Behandlung erhalten. An was machen Sie das fest? 

Johanna Unterhitzenberger: Die Info nehmen wir aus verschiedenen Befragungen heraus. Mein Kollege Lauritz Müller hat ungefähr 100 geflüchtete Jugendliche in Bayern befragt, ob sie sich depressiv oder ängstlich fühlen. Mehr als 50 Prozent waren in einem, wie wir sagen, klinisch relevanten Bereich. Davon hat nur ein ganz kleiner Teil tatsächlich jemals eine Therapie oder ähnliches in Anspruch genommen.

Gibt es noch einen anderen Grund, an dem Sie den Bedarf eines solchen Programms festmachen?

Unterhitzenberger: Wir haben keine Werbung zu dem Projekt und der Vorstudie, die bis 2018 gelaufen ist, gemacht, aber es hat sich schnell herumgesprochen, dass es dieses Angebot hier in Ingolstadt gibt. Wir hatten auch Anfragen aus dem Süden Bayerns. Das macht aber keinen Sinn, einen geflüchteten Jugendlichen in Ingolstadt zu therapieren, der einen zweistündigen Anfahrtsweg hat. Das hat uns gezeigt, dass die Not teilweise sehr groß ist und man sich an jeden Strohhalm klammert. 

Aus welchen Ländern kommen die geflüchteten Jugendlichen? 

Unterhitzenberger: Es verschiebt sich je nachdem welches Jahr wir uns anschauen. Als wir diese Studie 2016 bis 2018 gemacht haben, waren etwa dreiviertel der Jugendliche aus Afghanistan. Gefolgt von Jugendlichen aus Syrien, Eritreer, Somalier und dem Irak – aber da eher einzelne Vertreter. Jetzt finden wir vermehrt Jugendliche aus westafrikanischen Ländern oder auch Ostafrika.

Haben kulturelle Unterschiede den Zugang zu den geflüchteten Jugendlichen erschwert?

Unterhitzenberger: Meistens gibt es in den Ländern ein Konzept einer Psychiatrie, dass aber für schwer kranke oder "verrückte" Menschen ist. Wenn die Jugendlichen in ihrem Heimatland ein Problem haben, dann hilft meist die Familie. Entweder die Tante, die Oma oder ein entfernter Cousin. Die Jugendlichen in unserer Vorstudie konnten das Therapieangebot aber in der Regel gut annehmen, sie sind auch mit einem großen Leidensdruck gekommen. Da war wirklich die Bereitschaft da, dass es nicht so weitergehen kann.

Inwiefern drückt sich dieser Leidensdruck aus?

Unterhitzenberger: Die Jugendlichen können nicht mehr schlafen, haben Panikattacken oder können sich in der Schule nicht mehr  konzentrieren.

Haben Sie die Erfahrung gemacht, dass eher weibliche geflüchtete Jugendliche eine Therapie brauchen?

Unterhitzenberger: Wir haben 100 Prozent männliche Jugendliche versorgt. Das ist auch regional so bedingt. Hier in der Region gab es vorwiegend Einrichtungen für männliche Jugendliche.

Ist die Hürde, auch bedingt durch die Kultur, bei männlichen geflüchteten Jugendlichen höher mit einer Therapeutin zu sprechen?

Unterhitzenberger: Die Frage haben wir uns vor Beginn der Vorstudie auch gestellt. Zu dem Zeitpunkt waren wir acht Therapeutinnen und ein Therapeut. Ich habe alle Erstgespräche gemacht und habe nach den ersten Gesprächen auch gefragt, ob es einen Präferenz gibt. Viele Jugendliche haben gesagt: „Wenn ich über meine Gefühle sprechen soll, dann muss es eine Frau sein." Oder: "Wenn ich hier herkommen kann und es mir weiterhilft, dann ist es mir egal.“

Das hört sich ganz schön verzweifelt an.

Unterhitzenberger: Ja er Leidensdruck war oft hoch.

Woher kommt dieser Leidensdruck?

Unterhitzenberger: Es sind die unterschiedlichsten Geschichten. Es sind teilweise Geschichten wo man sich fragt, wie man so viel erleben und auch überleben kann. Ich kann Beispiele nennen von Bombenexplosionen, die überlebt wurden bei denen Familienmitglieder starben. Von Entführungen mit Foltererfahrung, weil Lösegeld erpresst werden sollte. Von Menschen, die im Dorf verbrannt werden, weil sie sich nicht so verhalten haben wie es die Taliban in dem Dorf gerne haben wollten. Natürlich gibt es auch von der Flucht ganz schlimme Geschichten.

Zum Beispiel?

Unterhitzenberger: Als einziger eine Bootsfahrt überlebt zu haben und gerade noch gerettet worden zu sein. Eine andere Geschichte, an die ich denke, wenn ich am Bahnhof stehe und ein Güterzug durchfährt: Ein Jugendlicher ist drei Tage lang unter einem Güterzug mitgefahren. Drei Tage ohne Essen und nur mit einer Flasche, die er sich einteilen musste. Es sind Geschichten vom Überleben. Wenn wir so eine extreme Situation haben, bei der wir wissen es geht gerade um Leben und Tod, dann aktiviert unser Gehirn das Stresssystem und schlägt Alarm. Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung, mit der die Jugendlichen zu uns gekommen sind, hört dieses Alarmsystem einfach nicht mehr auf – obwohl sie in Sicherheit sind.

Zweifeln Sie manchmal an solchen dramatischen Erlebnissen?

Unterhitzenberger: Wenn wir in der Mitte der Therapie bei dem Teil sind, bei dem die traumatischen Ereignisse berichtet werden, damit diese auch verarbeitet werden können, dann würde man das merken. Man merkt wie betroffen jemand ist auch in einer Situation, die schon Jahre her ist, wenn er das berichtet. Mein Ziel ist, dass die Belastung runtergeht. Wenn etwas nicht stimmt, dann stößt man in der Regel darauf, weil etwas nicht passt. Das emotionale Befinden während des Erzählens passt nicht zu den Inhalten. Es war eher so, dass wir manchmal das Gefühl hatten, da gibt es noch etwas anderes. Da wird viel berichtet, aber die Belastung, die der Jugendliche verspürt kommt, von etwas anderem. Und meistens war es dann auch so. Das sind dann eher die tabuisierten Themen wo dann erst nach einer längeren Zeit herauskommt, dass zum Beispiel sexuelle Gewalt stattgefunden hat. Was für die jungen Männer sehr viel schwerer als andere Ereignisse zu berichten ist.

Kann das ein Jugendlicher überhaupt verarbeiten?

Unterhitzenberger: Auch das ist so schwer vorstellbar. Tatsächlich ist die Posttraumatische Belastungsstörung einer der am besten untersuchten psychischen Erkrankungen. Wir wissen, dass Traumatherapie wirksam sein kann. Wenn eine Art der Therapie angeboten wird, die schon gut untersucht ist, dann kann sie auch für schwer traumatisierte Jugendliche und Erwachsene gut helfen. Das war auch unser Ziel. Und die Symptome, die vor der Therapie noch ausgeprägt waren, sind danach zurückgegangen. Die Belastung hat sich verringert. Und die Jugendlichen haben sich verändert: Es saß wieder eine selbstbewusste Person vor einem, die einen Plan für die Zukunft hat. Das war sehr schön zu sehen.

Wenn eine solche Therapie hilft, was sind dann die nächsten Schritte im Rahmen ihres Projekts "Better Care"?

Unterhitzenberger: Wir haben festgestellt, dass wir das hier in der Region 10 im kleinen Rahmen gut machen können. Wir haben sehr viel Erfahrung gesammelt in der Studie und viele Zahlen, die vielversprechend sind, und wir wollten das gerne größer aufziehen. Das Ziel ist, dass wir Jugendhilfeeinrichtungen in Bayern und Baden-Württemberg gewinnen, die an „Better Care“ teilnehmen wollen und denen wir dann einen gestuften Versorgungsansatz anbieten wollen.

 

Verbundprojekt "Better Care" 

Zahlreiche unbegleitete junge Geflüchtete haben traumatische Erfahrungen gemacht und leiden unter einer hohen psychischen Belastung. Eine bessere Versorgung ist das Ziel des Verbundprojekts "Better Care" unter der Leitung von Professor Rita Rosner des Lehrstuhls für klinische und Biologische Psychologie der Katholischen Universität Eichstätt-Ingosltadt (KU). Partner des Konsortiums sind die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Ulm sowie das Deutsche Jugendinstitut München. Das Bundesforschungsministerium fördert das vierjährige Projekt mit rund drei Millionen Euro, davon 1,4 Millionen Euro für die Teilprojekte der KU. Die Vorstudie, unter der Leitung von Johanna Unterhitzenberger, hat einen Schritt des gestuften Versorgungsmodells hervorgebracht. Weitere Informationen für Jugendhilfeeinrichtungen in Bayern und Baden-Württemberg, Dolemtscher und Psychotherapeuten gibt es auf der Internetseite: http://bettercare.ku.de

 

Samantha Meier