35 Jahre nach Tschernobyl: "Wir sind heute viel besser aufgestellt"

21.04.2021 | Stand 30.04.2021, 3:33 Uhr
Der Unglücksreaktor von Tschernobyl wenige Monate nach der Katastrophe: Am 26. April kam es im Reaktorblock 4 zur Explosion. Dadurch gelangten radioaktive Stoffe in die Atmosphäre - und lagern sich teils bis heute unter anderem in Pilzen ab, wie Inge Paulini, Präsidentin des Bundesamts für Strahlenschutz, erklärt. −Foto: Tass, epa/Weigel, dpa/Koall, dpa

Am 26. April jährt sich die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl zum 35. Mal. Seither hat sich in puncto Strahlenschutz eine Menge getan, wie Inge Paulini, Präsidentin des Bundesamtes für Strahlenschutz, im Interview sagt. Bundesweit war Bayern am schlimmsten von dem radioaktiven Fallout betroffen.

 

Frau Paulini, vor 35 Jahren kam es zum Atomunglück von Tschernobyl. Würden Sie sagen, wir leiden heute noch unter den Folgen?

Inge Paulini: Leiden wäre zu viel gesagt, aber viele Menschen beschäftigt das Thema Tschernobyl noch heute. Obwohl das Unglück 35 Jahre her ist, können sich viele noch sehr genau daran erinnern. Und in der Tat messen wir als Strahlenschützer auch heute noch teilweise erhöhte Werte des radioaktiven Isotops Cäsium-137 in einzelnen Waldpilzen und in Wildschweinen in einigen Gebieten in Süddeutschland. Das liegt daran, dass Cäsium-137 nach etwa 30 Jahren erst zur Hälfte zerfallen ist. Sorgen muss sich aber niemand machen. In den Handel gelangen diese Lebensmittel aufgrund der festgelegten Grenzwerte nicht. Die amtliche Lebensmittelüberwachung überprüft dies stichprobenartig. Vor allem politisch und gesellschaftlich wirkt Tschernobyl bis heute nach: Die Katastrophe hat die Risiken der Atomkraft verdeutlicht und war damit ein wichtiger Aspekt beim Umgang mit der Technologie in Deutschland. Auch die Forschung hinsichtlich des Verhaltens radioaktiver Stoffe in der Umwelt ist nach Tschernobyl stark vorangetrieben worden. Eine Folge des Unfalls war 1989 übrigens auch die Gründung des Bundesamts für Strahlenschutz.

 

Das Unglück hat Bayern besonders betroffen, weil eine radioaktive Wolke ihren Weg über den Freistaat genommen und hier sogar noch abgeregnet hat - worüber man sich damals nicht sofort klar war. Könnte uns derlei erneut passieren?

Paulini: Grundsätzlich besteht das Risiko einer nuklearen Katastrophe, solange diese Energiequelle zum Beispiel in Atomkraftwerken zur Erzeugung von Strom genutzt wird. Wir sind heute aber viel besser für eine solche Katastrophe aufgestellt als 1986. Das Bundesamt für Strahlenschutz hat hier einen entscheidenden Anteil: Wir messen und beobachten kontinuierlich, um auf eine solche Katastrophe vorbereitet zu sein und rasch reagieren zu können - auch wenn wir natürlich hoffen, dass es nie dazu kommt. Dafür ist in Deutschland nach Tschernobyl auch das Messnetz zur Überwachung radioaktiver Stoffe in der Umwelt deutlich erweitert und verbessert worden. In einem Notfall fließen diese Informationen in eine radiologische Lagebewertung ein, die die Grundlage für alle Entscheidungen in Bund und Ländern bildet. Die gesamte vorhandene Expertise wird in einem sogenannten radiologischen Lagezentrum des Bundes unter Federführung des Bundesumweltministeriums gebündelt, das in solchen Fällen zusammentreten würde. Wichtig ist, dass alle innerhalb kürzester Zeit die gleiche Informationsgrundlage und abgestimmte Vorschläge haben, welche Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung angemessen sind. Unter dem Eindruck der Katastrophen von Tschernobyl, aber auch von Fukushima sind außerdem die Notfallpläne von Bund und Ländern überarbeitet und ergänzt worden. Damit werden die Abläufe und Zuständigkeiten in einem Notfall klar geregelt. Und erst im vergangenen Jahr wurden neue Bestände von Jodtabletten gekauft und an die Bundesländer verteilt. Hoch dosierte Jodtabletten verhindern im Unglücksfall, dass radioaktives Jod sich in der Schilddrüse anreichern kann.

 

Ende kommenden Jahres wird Deutschland seine letzten Atomkraftwerke abschalten. In Grenznähe betreiben Nachbarländer weiter Reaktoren. Wie viel Furcht bereitet Ihnen das?

Paulini: Die europäischen Partner bewerten die Risiken der Kernkraft in Teilen anders als wir in Deutschland. Damit müssen wir umgehen und uns für den Fall vorbereiten, dass etwas passiert. Denn eines steht fest: Radioaktivität macht an Grenzen nicht Halt. Furcht wäre hier sicher keine angemessene Reaktion. Der radiologische Notfallschutz in Deutschland ist gut vorbereitet. Unsere Berechnungen zur radiologischen Lage beziehen auch das Ausland ein. Fukushima hat im Übrigen gezeigt, dass auch ein Ereignis am anderen Ende der Welt bei uns für erhebliche Verunsicherung sorgen kann. Egal, ob Inland oder Ausland: Wichtig aus unserer Sicht ist, dass schnelle, angemessene Entscheidungen getroffen und diese auch entsprechend klar und verständlich kommuniziert werden. Wir sehen gerade in der aktuellen Corona-Pandemie, wie wichtig es ist, dass alle wichtigen Akteure im Krisenfall eng zusammenarbeiten und mit einer Stimme sprechen. Um dies sicherzustellen, müssen wir die Zeit nutzen, die vor der Krise liegt. Daran arbeiten wir.

Im Vergleich zurzeit vor 35 Jahren scheint Strahlung eine zunehmende Rolle im Leben der Menschen zu spielen - beispielsweise wenn man an den Mobilfunk denkt. Würden Sie sagen, es wird schlimmer statt besser?

Paulini: Wir haben die Bevölkerung nach ihrer Wahrnehmung von Strahlung gefragt. Fast 70 Prozent der Befragten haben angegeben, dass ihrer Meinung nach die Strahlung angestiegen ist. Gefühlt steigt die Belastung also an. Die Gesellschaft hat sich entschieden, mehr Daten in kürzerer Zeit mobil zu nutzen oder in der Medizin neue Diagnose- und Behandlungsmethoden einzusetzen, die unterschiedliche Formen von Strahlung mit sich bringen. Als wissenschaftliche Einrichtung des Bundes beobachten wir im Bundesamt für Strahlenschutz die Entwicklungen sehr genau und forschen an offenen Fragen. Sie fragen konkret nach dem Mobilfunk: Die Auswirkungen auf den Menschen sind zu großen Teilen sehr gut erforscht und die geltenden Grenzwerte schützen uns vor gesundheitlichen Auswirkungen. Wenn sich neue Entwicklungen auftun, begleiten wir diese sehr eng und beraten Politik und Öffentlichkeit - entsprechend unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse, zum Schutz von Bevölkerung und Umwelt.

DK

Die Fragen stellte Alexander Kain.