Ingolstadt
Der Tod des Schlagmanns

Wenn Sport zur Sucht wird: Thomas Pollmächer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, erklärt, was in Kopf und Körper vor sich geht

19.11.2012 | Stand 03.12.2020, 0:48 Uhr

 

Ingolstadt (DK) Er ist ein Held. Er hat alles, was man sich wünschen kann. Ruhm, Ehre und Medaillen krönen seinen sportlichen Erfolg. Und doch zerstört er planmäßig sein Leben. Evi Simeoni beschreibt in ihrem Romandebüt „Schlagmann“ die Leidensgeschichte eines Hochleistungssportlers. Aber ihr Protagonist Arne Hansen hat ein reales Vorbild: Der Ruderer Bahne Rabe gewann mit dem Deutschland-Achter 1988 olympisches Gold in Seoul – und trainierte und hungerte sich nach seinem Karriereende systematisch zu Tode.

Evi Simeoni wird morgen, Mittwoch, im Rahmen unserer Reihe „LeseLust“ im DK-Forum zu Gast sein. Macht Sport krank – oder das System? Was passiert, wenn Sport zur Sucht wird? Was macht uns überhaupt süchtig? Diese Fragen stellte unsere Redakteurin Anja Witzke an Thomas Pollmächer. Er ist Direktor des Zentrums für psychische Gesundheit am Klinikum Ingolstadt und wurde kürzlich im „Focus“-Ranking als einer der besten Ärzte bei der Behandlung psychischer Erkrankungen gelistet.

Was fällt Ihnen zu dem Sprichwort ein: „Mens sana in corpore sano“?

Thomas Pollmächer: Dieses alte lateinische Sprichwort geht davon aus, dass es dem Geist immer dann gutgeht, wenn es dem Körper gutgeht. Das ist sicherlich in gewisser Weise richtig, weil das Gehirn, das ja einen großen Teil des Geistes ausmacht, vom Körper getragen, ernährt und unterhalten wird. Es bestehen ganz enge Verbindungen zwischen dem, was im Körper und dem, was im Gehirn passiert.

Betreiben Sie denn selbst eine bestimmte Sportart?

Pollmächer: Als Jugendlicher war ich im Schachclub und seit ein paar Jahren spiele ich Golf, aber das gilt ja allgemein nicht als Sport.

Skispringer Sven Hannawald hatte ein Burn-out, Fußballprofi Sebastian Deisler litt unter Depressionen und musste seine Karriere aufgeben, Nationaltorwart Robert Enke nahm sich sogar das Leben, Bahne Rabe starb an den Folgen seiner Magersucht. Macht der Sport krank oder das System?

Pollmächer: Die Tatsache, dass solche Dinge jetzt eher bekannt werden, bedeutet nicht unbedingt, dass solche Erkrankungen unter Sportlern heute häufiger wären als früher. Unsere Gesellschaft beschäftigt sich im Allgemeinen mehr mit der Psyche – und auch mit psychiatrischen und emotionalen Erkrankungen. Zum Glück. Während vor 20 Jahren kaum jemand mit einer Depression zum Arzt gegangen wäre, ist heute doch gesellschaftlich allgemein anerkannt, dass es sich um eine ernsthafte Erkrankung handelt. Und dass sie behandelbar ist. Insofern werden solche Erkrankungen bei prominenten Persönlichkeiten – und das betrifft nicht nur Sportler, sondern auch Politiker, Schriftsteller oder Künstler – auch eher bekannt. Was eigentlich gut ist. Gerade das Beispiel Robert Enke zeigt doch die Gefahr: Er hatte seine Erkrankung bis kurz vor seinem Suizid so vehement unterm Deckel gehalten hat, dass man ihm nicht mehr helfen konnte. Er hielt still, weil er befürchten musste, dass ihm Nachteile im Job drohen. Was bei Menschen, die extrem leistungsorientiert arbeiten, hinzukommt, ist, dass tatsächlich mehr als früher der Leistungsaspekt im Mittelpunkt steht und der Rest des Menschseins und des Lebens völlig vernachlässigt wird.

Es gibt sogar eine Sportsucht, die zunächst nur bei Leistungssportlern auftrat, mittlerweile aber auch im Breitensport zu finden ist. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Pollmächer: Sucht im Sport entsteht dann, wenn im Rahmen der maximalen Auslastung der physischen Reservekapazitäten Endorphine freigesetzt werden. Das sind endogene schmerzstillende, aber auch euphorisierende Substanzen, die eigentlich dazu da sind, den Körper in Gefahren- oder Extremsituationen so weit zu motivieren, dass er noch weitermachen kann. Evolutionsgeschichtlich ist das ein vernünftiges Prinzip. Stellen Sie sich vor, unsere Urahnen trafen plötzlich auf eine Horde wilder Tiere oder auf feindliche Krieger – da musste man alle Körperreserven mobilisieren. Und da bedient sich der Körper des Tricks, dass er körpereigene Substanzen ausschüttet, die sowohl die Welt rosiger erscheinen lassen, als sie eigentlich ist, als auch zur Mobilisierung der letzten Kräfte beitragen, in dem sie z. B. die Empfindung von Schmerz dämpfen. Diese Endorphine sind – das steckt ja schon im Namen drin – dem Morphium verwandt und auch dem Heroin, also klassischen Suchtstoffen, die auch missbraucht werden können.

Gibt es eigentlich bestimmte Berufsgruppen, die besonders anfällig sind für psychische Erkrankungen?

Pollmächer: Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, weil der Bereich der psychischen Erkrankungen ja riesig ist. Aber Sie beziehen sich vermutlich auf den Bereich der Depression. Und da ist es so, dass vor allem Menschen anfällig sind, die in ihrer Persönlichkeitsstruktur besonders leistungsorientiert sind. Das sind nicht unbedingt Menschen, die absolut gesehen mehr arbeiten als andere. Es sind Menschen, die ihre Arbeit sehr ernst nehmen, die sie sehr genau machen. Und die selber nur sehr schwer in der Lage sind, eigene Fehler zu tolerieren.

Was macht uns überhaupt süchtig? Was passiert im Kopf und mit dem Körper bei einer Sucht?

Pollmächer: Es gibt Unterschiede zwischen den Suchtformen. Aber was immer eine Rolle spielt, ist das Belohnungssystem im Gehirn, ein kompliziertes Netzwerk. Dieses Belohnungssystem ist dafür da, wichtige Handlungen zu verstärken, dafür zu sorgen, dass wir sie auch tatsächlich tun. Primär handelt es sich um Dinge, die zunächst gar nicht an Sucht denken lassen, zum Beispiel Essen oder Sex. Aber alle Substanzen oder alle Tätigkeiten, die positiv in dieses Belohnungssystem eingreifen, können letztlich auch eine Sucht erzeugen.

Was können uns Schicksale wie die von Bahne Rabe oder Robert Enke lehren?

Pollmächer: Die Schicksale solcher Prominenten lehren zunächst mal, dass man solche Erkrankungen ernst nehmen und frühzeitig behandeln muss. Depressionen können jeden treffen. Denn Depressionen sind echte Erkrankungen und nicht – wie oftmals in der Bevölkerung angenommen – persönliche Versagenszustände. Und das Zweite, was man lernen kann, ist, auf frühe Symptome zu achten: Schlafstörungen, leichtgradige Veränderungen der Konzentration oder verminderte Stresstoleranz. Am besten könnte die Gesellschaft damit helfen, dass sie solche Erkrankungen nicht mehr stigmatisiert.
 

Evi Simeoni liest am Mittwoch, 21. November, um 19.30 Uhr in der Reihe „LeseLust“ im DK-Forum aus ihrem Roman „Schlagmann“. Karten gibt es in allen DK-Geschäftsstellen und unter der Tickethotline (08 41) 9 66 68 00.