Grunge, Fusion, Kunstlied: Jazz kennt keine Grenzen

06.11.2022 | Stand 22.09.2023, 3:42 Uhr

Stelldichein der Weltstars: Mit Bill Evans (links) und Darryl Jones standen am Samstag zwei internationale Größen auf der Bühne des NH-Hotels – und präsentierten auch Jazz-Versionen von Grunge-Hits wie „Smells Like Teen Spirit“ von Nirvana. Foto: Woelke

Ingolstadt – Man nehme ein paar bekannte Namen, suche die dazu passenden Stücke, schicke die Band auf Tour – und die Zuhörer kommen von allein. So oder ähnlich ist das Konzept der Supergroups, von denen es in der Rock- und Jazzgeschichte schon etliche gegeben hat. Das kann funktionieren, muss aber nicht.

Im Falle der Jazz/Takes-Supergroup und deren Auftritt bei der Jazzparty II am Samstag im NH-Hotel ist das Konzept aufgegangen. Wobei das im Grunde eine glatte Untertreibung ist. Wenn Leute wie Bill Evans, Harvey Mason, Darryl Jones und Niels Lan Doky gemeinsam auf der Bühne stehen, ist ein Nicht-Funktionieren im Bauplan des Universums schlichtweg nicht vorgesehen. Diese Musiker kennen sich teilweise seit Jahrzehnten, haben mehr oder weniger mit sämtlichen anderen Größen gespielt und können mit ihren Alben und Produktionen, mit ihren Preisen und Auszeichnungen vermutlich die komplette Ingolstädter Fußgängerzone zupflastern.

Noch viel verlockender ist freilich das Konzept, das hinter der Jazz/Takes Supergroup steht: Es ist eine Mischung aus eigenen Kompositionen und Interpretationen bekannter zeitgenössischer Stücke aus dem breiten Spektrum zwischen Pop, Rock, Grunge, Disco, Metal, Hip-Hop, Punk, Wave und vielem mehr. Wie das klingt, zeigen die vier Musiker gleich nach dem Eröffnungstitel, dem „Dixie Hop“ von 1939 in der Version von Bill Evans und Randy Brecker. Da spielt die Jazz/Takes Supergroup doch tatsächlich „Smells Like Teen Spirit“ von Nirvana. Die Hymne des Grunge ohne den unverkennbaren Gesang von Kurt Cobain? Ja, das funktioniert. Und mehr als das: Es swingt richtig.

Zugegeben: Nachdem Bill Evans die Hookline mit seinem Saxofon angespielt hat, braucht man schon ein paar Sekunden, um zu realisieren, dass man gerade neben einer Hotelbar an der Goethestraße in Ingolstadt einen der erfolgreichsten Songs aller Zeiten in einer Jazz-Version hört. Evans und Keyboarder Niels Lan Doky greifen das bekannte, in f-Moll gehaltene Eingangsriff auf und spielen im wahrsten Sinne des Wortes damit. Gleiches gilt für Harvey Mason am Schlagzeug, ein Mann, der seit Jahrzehnten in allen Genres zuhause ist. Und natürlich gar nicht zu reden von „the one and only“ Darryl Jones: Wer bei Miles Davis und den Stones den Bass gezupft hat, spielt sowieso in einer anderen Liga.

Intellekt, Erfahrung, Freude an der Musik und die Neugier, neue Wege zu beschreiten, schließen sich da auf der Bühne zusammen. Und so geht es weiter: bei „Black Hole Sun“ von Soundgarden, „Kiss From A Rose“ von Seal oder auch bei Eigenkompositionen. Leider gibt es nur eine Zugabe, aber die ist ein Schmankerl: der Ohrwurm „Jean Pierre“ von Miles Davis.

Mit seinen 70 Jahren ist Lee Ritenour ein Veteran unter all den Musikern dieser Ingolstädter Jazztage, die er nach 1998 das zweite Mal besucht. Er hat bei unzähligen Aufnahmen mitgewirkt, und daher ist es umso erstaunlicher, dass der in Los Angeles Geborene erst 2020 sein erstes Solo-Gitarrenalbum veröffentlicht hat. „Dreamcatcher“ heißt das Werk, in dem er traumatische Erlebnisse verarbeitet: 2018 brannten sein Haus und sein Studio in Kalifornien nieder. Einige Stücke aus diesem Album hat er mit im Gepäck, als er im Rahmen seiner Europatour in Ingolstadt Station macht.

Wenn Ritenour mit oft geschlossenen Augen die Saiten anschlägt, präsentiert er sich als ein hoch konzentrierter, in sich ruhender Gitarrist, der höchst präzise und gleichzeitig mit viel Gefühl seine Zuhörer mitnimmt auf eine Reise mit sanften Tönen und effektvollen Skalen. Doch er kann auch „Funk, Fusion and the other stuff“, wie er eingangs sein Programm ankündigt. „Wes Bound“ ist ein gutes Beispiel dafür, eine Hommage an das Idol seiner Jugend, Wes Montgomery, den er einst im legendären Lighthousclub in LA sah, wie er erzählt. Ihm zur Seite eine hervorragende, international besetzte Band mit Otario Ruiz (Keyboards), Pera Krstajic (Bass) und Wesley Ritenour (Drums).

Ihren ganz speziellen Stil hat Olivia Trummer entwickelt. Die Sängerin, Pianistin und Komponistin präsentiert eine Reihe von Stücken aus ihrem Album „For You“, darunter „Undress Me“ oder „Piece Of Love“. Die 1985 in Stuttgart geborene Musikerin hat eine klassische Ausbildung genossen, was unüberhörbar ist. Sie spielt Klavier und setzt gleichzeitig ihre Stimme äußerst präzise und sehr fein nuanciert ein: Bisweilen ist es eher ein Hauchen denn ein Singen, ja fast schon eine Form von Kunstlied, um dann im nächsten Moment voller Inbrunst zu scatten. Keine leichte Kost, aber wirkungsvoll – und ans Publikum der Anspruch, bewusst zuzuhören und sich darauf einzulassen. Nicola Angelucci (Drums) und Rosario Bonaccorso (Kontrabass) erweisen sich als kongeniale Begleiter.

Die vierte Band dieser Jazzparty II ist wieder das New Orleans Jazz Collective, das an diesem Abend den dritten Auftritt hintereinander im NH-Hotel hat. Im Vergleich zu den Zeiten vor Corona ist die Party nicht so gut besucht. Aber dafür hat der Zuhörer mehr Platz – sogar zum Tanzen.

DK