Demokratie gibt’s nicht umsonst

Sven Kemmler bei den Kabaretttagen in der Neuen Welt

13.10.2022 | Stand 22.09.2023, 4:37 Uhr

Zeigt Stolperfallen der Demokratie auf: Sven Kemmler gastierte mit seinem Programm „Paradise Lost“ in Ingolstadt. Foto: Leitner

Von Karl Leitner

Ingolstadt – Was für ein Kraftakt für den Vortragenden und das Publikum. Ersteren plagt ein Hexenschuss, weswegen er die ganze Zeit über auf einem Stuhl sitzt, und den Leuten im Saal wird knapp 100 Minuten lang einiges an intellektueller Anstrengungsbereitschaft abverlangt. Aber Demokratie gibt’s nun mal nicht umsonst. Nicht in echt und auch nicht hier in der Neuen Welt, in der Sven Kemmler im Rahmen der Kabaretttage mit seinem Programm „Paradise Lost“ zu Gast ist.

Paradise Lost? – Zumindest scheint es so, da gefühlt alles hierzulande den Bach runter geht. Der Demokratie geht’s nicht gut. Woran das liegt, was man dagegen tun kann und ob sie tatsächlich die beste Staatsform von allen ist, warum sie auch noch dem Idioten, der sie mit Füßen tritt, Meinungsfreiheit gewährt – diesen Fragen geht Kemmler nach. Und noch vielen weiteren, die man als in der demokratischen Idylle groß gewordener Bürger gar nicht auf dem Schirm hat. Dabei nutzt er das ganze Repertoire des literarisch-politischen Kabarettisten. Lesung und freier Vortrag, diverse Rollen, Dialekte und Sprachmuster, Szenen und Rahmenhandlung, Theorie und Praxisbeispiele, Information und Satire, Sarkasmus und echte Betroffenheit, Ernst und Spaß. Dass es kein Abend für Schenkelklopfer oder eher schlichte Gemüter werden würde, konnte man angesichts des Themas vorab mutmaßen. Dass Kemmler mit seinem Konzept, sein Thema von allen möglichen Seiten auf seine Staatstauglichkeit hin abzuklopfen, auch gleich noch eine Lehrstunde in Sachen Staatskunde, Politologie und Ökonomie mitliefern würde, war nicht vorauszusehen.

Das Thema ist trocken, aber auch interessant, weil man, wenn man ehrlich ist, sich von selbst und freiwillig nicht so weit in die Materie vertiefen würde. Kemmler freilich zieht einen unweigerlich mit hinein, stellt den Zusammenhang zwischen Demokratie und Kapitalismus, Freiheit, Konsum und Sprache her, zeigt drohende Gefahren auf, beklagt deren teilweisen Verlust. Der Los-Entscheid ersetze künftig die Wahlprozedur, fordert er, was natürlich reine Satire ist, und ein anderes Wahlvolk müsse auch her, denn ein Teil des aktuellen sei einfach zu dumm für Demokratie. Und deswegen natürlich auch Bildung, Kultur und daraus resultierend wenigstens ein Mindestmaß an Durchblick.

Paradise Lost? – Nun ja, kleine Fehler hatte diese paradiesische Staatsform ja schon immer. Bereits als George Washington und Thomas Jefferson das „Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ in die amerikanische Verfassung schrieben und gleichzeitig im Süden die Grundherrn ihre Sklaven umbrachten. Oder wenn wir heute die Demokratie unwilligen Staaten per Kampfjets näher bringen wollen. In Reinform bleibe sie wohl ein Wunschtraum, eine Utopie, eine Vision, die vielleicht niemals ganz Realität wird, an deren Verwirklichung man aber nichtsdestotrotz permanent arbeiten, deren Grundlagen man tunlichst hegen, pflegen und schützen solle. Denn eine Alternative gibt es nicht, und das Schlimmste wäre, wenn wir nach deren Zerstörung wieder bei Null anfangen müssten. Paradise Lost? – Zum Glück noch nicht. Aber man sieht deutlich erste Kratzer und Risse. Absolut überzeugend, Herr Kemmler!

DK